Ersetzung von bilateralen Abkommen durch Gemeinschaftsrecht
Fortbestand der Vergünstigungen, die zuvor nach nationalem Recht iVm mit dem Abkommen gewährleistet waren
(C - 277/99 vom 05.02.2002, Kaske)
Der Fall:
Die gebürtige Deutsche Doris Kaske, die seit 1968 auch die österreichische Staatsangehörigkeit besitzt, war von 1972 bis 1982 in Österreich beschäftigt, wo sie Beiträge zur Arbeitslosenversicherung zahlte. Nach ihrer Übersiedlung nach Deutschland war sie dort bis April 1995 als Arbeitnehmerin unter anderem arbeitslosenversicherungspflichtig beschäftigt. Von Mai 1995 bis Februar 1996 bezog sie dort Arbeitslosengeld. Danach war sie erneut arbeitslosenversicherungspflichtig beschäftigt. Nach ihrer Rückkehr nach Österreich beantragte Frau Kaske dort im Juni 1996 beim Arbeitsmarktservice Arbeitslosengeld. Ihr Antrag wurde mit der Begründung abgewiesen, dass sie nicht die Voraussetzungen für die Gewährung von Arbeitslosengeld nach dem österreichischen Recht erfülle. Die ausländischen Beschäftigungszeiten könnten bei der Geltendmachung ihres Anspruchs nicht berücksichtigt werden, da Frau Kaske sich weder vor der Zurücklegung von Versicherungszeiten in Deutschland 15 Jahre lang in Österreich aufgehalten gehabt habe, noch zum Zweck der Familienzusammenführung nach Österreich übersiedelt sei. Frau Kaske ist demgegenüber der Ansicht, dass nach einem 1979 in Kraft getretenen österreichisch-deutschen Abkommen ihre in Deutschland zurückgelegten Versicherungszeiten berücksichtigt werden könnten, womit sie Anspruch auf Arbeitslosengeld hätte.
Laut Europäischem Gerichtshof besitzt ein Angehöriger eines an einem bilateralen Abkommen beteiligten Mitgliedstaats, der- nachdem er als Arbeitnehmer von der Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat- vor Inkrafttreten der Gemeinschaftsverordnung über die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer Anspruch auf Arbeitslosengeld hat, nach Inkrafttreten der Verordnung ein Recht darauf, dass dieses Abkommen weiter angewandt werde.
Das Urteil:
1. Die vom Gerichtshof im Urteil vom 7. Februar 1991 in der Rechtssache C-227/89 (Rönfeldt) aufgestellten Grundsätze, wonach die Vorschriften der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, unangewendet bleiben können und auf den einem Mitgliedstaat angehörenden Arbeitnehmer weiterhin ein bilaterales Abkommen angewandt werden kann, an dessen Stelle diese Verordnung eigentlich getreten ist, gelten auch dann, wenn der betreffende Arbeitnehmer von der Freizügigkeit noch vor Inkrafttreten dieser Verordnung und vor dem Wirksamwerden des Vertrages in seinem Heimatmitgliedstaat Gebrauch gemacht hat.
2. Die Situation des einem Mitgliedstaat angehörenden Arbeitnehmers ist, sofern die Versicherungs- oder Beschäftigungszeiten, aufgrund deren er Anspruch auf das von ihm begehrte Arbeitslosengeld hat, vor dem Inkrafttreten der Verordnung Nr. 1408/71 begonnen haben, für die gesamte Zeit, in der er von der Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, nach den Bestimmungen des bilateralen Abkommens zu beurteilen, wobei sämtliche von ihm zurückgelegten Versicherungs- oder Beschäftigungszeiten zu berücksichtigen sind, ohne dass danach unterschieden wird, ob diese Zeiten vor oder nach dem Inkrafttreten des Vertrages und der Verordnung Nr. 1408/71 im Heimatmitgliedstaat des Arbeitnehmers liegen. Macht der Betreffende dagegen nach Erschöpfung aller seiner Rechte aus dem Abkommen erneut von der Freizügigkeit Gebrauch und legt neue Versicherungs- oder Beschäftigungszeiten zurück, die ausschließlich nach dem Inkrafttreten der Verordnung Nr. 1408/71 liegen, so bestimmt sich seine neue Situation nach dieser Verordnung.
3. Ein nationales Recht darf gegenüber dem Gemeinschaftsrecht günstigere Vorschriften vorsehen, sofern diese die Grundsätze des Gemeinschaftsrechts wahren. Artikel 48 EG-Vertrag1 steht einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegen, wonach Arbeitnehmer, die sich vor ihrer letzten Beschäftigung im Ausland mindestens 15 Jahre in diesem Mitgliedstaat aufgehalten haben, hinsichtlich der Voraussetzungen für den Bezug von Arbeitslosengeld eine Sonderstellung haben.
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1 Jetzt Artikel 39 EG.
Die Pressemitteilung:
Urteil des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache C-277/99: Doris Kaske / Landesgeschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Wien
Pressemitteilung des Europäischen Gerichtshofes Nr. 12/02 vom 5. Februar 2002
Die Vergünstigungen, die ein Wanderarbeitnehmer erworben hat, der einem an einem bilateralen Abkommen über Soziale Sicherheit beteiligten Staat angehört, bestehen auch dann fort, wenn dieser Arbeitnehmer von der Freizügigkeit noch vor Inkrafttreten einer Gemeinschaftsverordnung und vor dem Wirksamwerden des EG-Vertrages in seinem Heimatstaat Gebrauch gemacht hat.
Der Gerichtshof bekräftigt seine Rechtsprechung, wonach für einen Wanderarbeitnehmer weiterhin die Bestimmungen eines zwischen zwei Mitgliedstaaten geschlossenen Abkommens gelten, die günstiger sind als die Regelung, die sich aus einer eigentlich an dessen Stelle getretenen Gemeinschaftsverordnung ergibt.
Frau Kaske, eine gebürtige Deutsche, besitzt seit 1968 auch die österreichische Staatsangehörigkeit. Sie war 10 Jahre lang in Österreich als Arbeitnehmerin beschäftigt, wo sie Beiträge zur Arbeitslosenversicherung entrichtete. 1983 übersiedelte sie nach Deutschland, wo sie 12 Jahre lang arbeitslosenversicherungspflichtig beschäftigt war. Nach einer Zeit, in der sie ohne Beschäftigung war, war sie erneut arbeitslosenversicherungspflichtig beschäftigt. Nach ihrer Rückkehr nach Österreich beantragte sie am 12. Juni 1996 bei der regionalen Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Arbeitslosengeld.
Der Arbeitsmarktservice wies ihren Antrag mit der Begründung ab, dass sie nicht die Voraussetzungen für die Gewährung von Arbeitslosengeld nach dem österreichischen Gesetz erfülle, mit dem die Gemeinschaftsverordnung über die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer, die in Österreich am 1. Januar 1994 in Kraft getreten ist, durchgeführt wird: Frau Kaske habe vor der Geltendmachung ihres Anspruchs auf Arbeitslosengeld keine österreichischen Versicherungs- oder Beschäftigungszeiten zurückgelegt, und sie falle auch nicht unter die Sondervorschriften des österreichischen Gesetzes für im Inland Ansässige, die sich vor der Zurücklegung von Versicherungszeiten im Ausland mindestens 15 Jahre lang in Österreich aufgehalten haben. Nach dieser Ausnahme kann der Antrag auf Arbeitslosengeld in Österreich gestellt werden, ohne dass der Antragsteller dort zuvor eine Beschäftigungszeit zurückgelegt haben muss.
Nach Ansicht von Frau Kaske könnten jedoch nach einem 1979 in Kraft getretenen österreichisch-deutschen Abkommen ihre in Deutschland zurückgelegten Versicherungszeiten berücksichtigt werden.
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Unter diesen Umständen erhob Frau Kaske gegen den Bescheid des Arbeitsmarktservice zunächst Berufung, die abgewiesen wurde, und sodann Beschwerde beim Verwaltungsgerichtshof. Dieser hat den Gerichtshof der EG angerufen mit der Frage, ob die gegenüber dem österreichischen Recht günstigeren Bestimmungen des österreichisch-deutschen Abkommens trotz des Inkrafttretens der späteren Gemeinschaftsverordnung anzuwenden seien. Dabei geht es um die Frage, ob auf Leistungen bei Arbeitslosigkeit das Urteil "Rönfeldt" (C-227/89) des Gerichtshofes der EG übertragen werden kann, wonach es bei einem zwei- oder mehrseitigen Abkommen nicht dazu kommen darf, dass Arbeitnehmer, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben, Vergünstigungen der sozialen Sicherheit verlieren.
Der Gerichtshof weist darauf hin, dass entgegen dem Vorbringen der österreichischen Regierung nichts verbiete, die Ausführungen im Urteil Rönfeldt zu Rentenansprüchen auf Leistungen bei Arbeitslosigkeit zu übertragen. Diese seien als Vergünstigungen der sozialen Sicherheit zu qualifizieren, und das Urteil Rönfeldt erfasse diese Art von Vergünstigungen insgesamt.
Folglich besitze ein Angehöriger eines an einem bilateralen Abkommens beteiligten Mitgliedstaats, der - nachdem er als Arbeitnehmer von der Freizügigkeit Gebrauch gemacht habe - vor Inkrafttreten der Gemeinschaftsverordnung über die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer Anspruch auf Arbeitslosengeld habe, nach dem Inkrafttreten der Verordnung ein wohlerworbenes Recht darauf, dass dieses Abkommen weiter angewandt werde. Der Betroffene habe somit ein schützenswertes Vertrauen entwickeln dürfen, dass er von den Bestimmungen des bilateralen Abkommens werde profitieren können.
Insoweit bestehe keine Veranlassung, zwischen den Beitrags- oder Beschäftigungszeiten danach zu unterscheiden, ob sie vor oder nach dem Inkrafttreten des Vertrages und der Verordnung lägen. Der Anspruch auf Anwendung des Abkommens könne vor dem Inkrafttreten der Gemeinschaftsverordnung erworben sein. Nur wenn alle Rechte des Arbeitnehmers aus einer Beitrags- oder Beschäftigungszeit nach Inkrafttreten der Gemeinschaftsverordnung erschöpft seien, sei seine Situation im Folgenden nach den Vorschriften dieser Verordnung zu beurteilen.
Außerdem hat der Gerichtshof auf eine andere Frage des vorlegenden Gerichts klargestellt, dass eine nationale Regelung, wonach restriktive Wohnsitzerfordernisse für die Gewährung von Arbeitslosengeld gelten (mindestens 15-jähriger Aufenthalt im Inland vor der letzten Beschäftigung im Ausland), eine auf der Staatsangehörigkeit beruhende Ungleichbehandlung darstelle, da sie den beständig im Inland erwerbstätigen Österreichern eine Sonderstellung einräume, und die Freizügigkeit behindere, weil sie die Angehörigen der anderen Mitgliedstaaten benachteilige. Solchen Erfordernissen stehe auf jeden Fall der gemeinschaftsrechtliche Grundsatz der Freizügigkeit der Arbeitnehmer entgegen.
Originaltext des Urteils:
Urteil des Europäischen Gerichtshofes in der RechtssacheC-277/99:
Doris Kaske /Landesgeschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Wien