Qualifizierung einer postuniversitären Beschäftigung
Diese darf von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat verschieden sein
(C-92/02 vom 4.12.2003, Kristiansen)
Der Fall:
Die norwegische Staatsbürgerin Nina Kristiansen übte nach Beendigung ihres Studiums vom 1. Juni 1988 bis zum 31. Oktober 1994 eine Erwerbstätigkeit in Norwegen aus. Sie war in diesem Zeitraum in Norwegen sozialversicherungspflichtig. Vom 1. November 1994 bis 31. Oktober 1996 arbeitete Frau Kristiansen aufgrund eines mit der Kommission der EG geschlossenen Vertrages beim Institut für Referenzmaterialien und -messungen (im Folgenden: IRMM) in Geel (Belgien). Ziel dieses Vertrages war die Verbesserung der beruflichen Qualifizierung junger Arbeitnehmer. Frau Kristiansen nahm vertragsgemäß an einem Ausbildungsprojekt auf dem Gebiet der Forschung teil, dessen Einzelheiten im Anhang des Vertrages geregelt waren. Danach erhielt Frau Kristiansen kein Gehalt, sondern einen monatlichen Beitrag zur Deckung der Reisekosten und der Kosten für den Lebensunterhalt. Außerdem hatte sie die Kosten für ihre soziale Absicherung und die Steuern zu tragen. Frau Kristiansen war in Belgien nicht sozialversicherungspflichtig. Nach Ablauf des Ausbildungsprojektes war sie einen Monat arbeitslos. Vom 1. Dezember 1996 bis zum 30. November 1999 war Frau Kristiansen bei der Kommission aufgrund eines Vertrages als Bedienstete auf Zeit beschäftigt, in dessen Rahmen sie dem System der sozialen Sicherheit der Beamten und Bediensteten der EG unterlag. Nach Ablauf des Vertrages beantragte die Klägerin Arbeitslosengeld in Belgien. Mit Bescheid vom 23. Juni 2000 lehnte das Nationale Arbeitsamt den Antrag mit Begründung ab, dass Frau Kristiansen nicht die Voraussetzungen der belgischen Vorschriften erfülle, da sie im anwendbaren Referenzzeitraum- d. h. 27 Monate vor Antragstellung- nicht die Wartezeit von 468 Arbeitstagen oder damit gleichgestellten Tagen erfüllt habe. Das Nationale Arbeitsamt lehnte es in seinem Bescheid ab, die Zeit vom 1. Dezember 1996 bis zum 30. November 1999 zu berücksichtigen, in der Frau Kristiansen bei der Kommission beschäftigt war. Zur Begründung führte es aus, diese Zeiten der Erwerbstätigkeit seien in einem nicht der Sozialversicherung unterliegenden Beruf oder Unternehmen zurückgelegt worden und könnten daher nicht berücksichtigt werden. Die betreffenden Zeiten verlängerten aber den Referenzzeitraum für den Erwerb von Ansprüchen auf Leistungen aus der nationalen Arbeitslosenversicherung. Zur Tätigkeit von Frau Kristiansen beim IRRM vom 1. November 1994 bis 31. Oktober 1996 vertrat das Nationale Arbeitsamt dagegen die Ansicht, dass die betreffenden Zeiten nicht den Referenzzeitraum verlängerten, da es sich um Ausbildungszeiten gehandelt habe, die Frau Kristiansen als Praktikantin- Stipendiatin zurückgelegt habe.
Frau Kristiansen verfüge somit nicht über die erforderliche Anzahl von Arbeitstagen, um Arbeitslosengeld nach den belgischen Rechtsvorschriften zu erhalten. Diesen Bescheid hat Frau Kristiansen angefochten. Sie machte geltend, dass es sich bei ihrer Tätigkeit beim IRMM um eine Erwerbstätigkeit gehandelt habe. Während in einigen Mitgliedstaaten die Tätigkeit eines Graduierten als Erwerbstätigkeit betrachtet werde, werde sie in Belgien als Tätigkeit eines Praktikanten- Stipendiaten angesehen. In Belgien sei der freiwillige Anschluss eines Praktikanten- Stipendiaten an das System der sozialen Sicherheit, das für die jeweilige Erwerbstätigkeit gelte, nicht möglich. Eine derartige Ungleichheit in der sozialen Stellung von Graduierten verstoße gegen das Gemeinschaftsrecht.
Laut Europäischem Gerichtshof verstößt es nicht gegen Gemeinschaftsrecht, wenn eine nationale Regelung wie die belgische auf Bedienstete auf Zeit der Europäischen Gemeinschaft, die nach Beendigung ihrer Beschäftigung bei der EG in Belgien wohnen, für die keine Beiträge zur Sozialversicherung einbehalten wurden und die Anspruch auf ein von der EG gezahltes Arbeitslosengeld haben, in vollem Umfang das nationale Recht anzuwenden, und zwar unter Beachtung der nationalen Antikumulierungsvorschrift, wonach Arbeitslosengeld nur gewährt wird, wenn der Arbeitnehmer arbeitslos ist und keinen Lohn bezieht. Darüber hinaus liegt kein Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot vor, wenn es Praktikanten- Stipendiaten verwehrt bleibt, sich an das System der sozialen Sicherheit anzuschließen, da das Diskriminierungsverbot es untersagt, das nationale Recht je nach Staatsangehörigkeit der Betroffenen unterschiedlich anzuwenden. Dieses Verbot richtet sich jedoch nicht gegen eine unterschiedliche Behandlung infolge von Unterschieden zwischen den nationalen Rechtsvorschriften der einzelnen Mitgliedstaaten.
Das Urteil:
1. Nach Artikel 28a Absatz 1 Unterabsatz 2 der Beschäftigungsbedingungen für die sonstigen Bediensteten der Europäischen Gemeinschaften ergänzt das Gemeinschaftssystem der Leistungen bei Arbeitslosigkeit die entsprechenden Systeme der Mitgliedstaaten. Dieser ergänzende Charakter ist zu beachten, wenn es um die Anwendung der Arbeitslosenversicherung eines Mitgliedstaats und insbesondere einer dort vorgesehenen Antikumulierungsvorschrift auf einen ehemaligen Bediensteten auf Zeit geht, der in dem betreffenden Mitgliedstaat wohnt und nach den Beschäftigungsbedingungen für die sonstigen Bediensteten der Europäischen Gemeinschaften einen Anspruch auf Arbeitslosengeld hat.
2. Es verstößt nicht gegen das in Artikel 7 Absatz 4 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft niedergelegte Diskriminierungsverbot, wenn jemand, der als Graduierter eine Tätigkeit wie diejenige im Ausgangsverfahren ausübt, in einem Mitgliedstaat als Praktikant-Stipendiat betrachtet wird, der kein Recht auf Anschluss an die nationale Arbeitslosenversicherung hat, während jemand in der gleichen Stellung in einem anderen Mitgliedstaat als Erwerbstätiger angesehen wird, der Ansprüche auf Leistungen aus der entsprechenden Arbeitslosenversicherung erwerben kann.
Originaltext des Urteils:
Urteil des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache C-92/02: Kristiansen