Beihilfe für Arbeitssuchende
Gewährung darf an ein Aufenthaltserfordernis geknüpft werden (C - 138/03 vom 23.03.2004, Collins)
Der Fall:
Der sowohl amerikanische als auch irische Staatsangehörige Brian Francis Collins hielt sich Anfang der 80er Jahre zehn Monate im Vereinigten Königreich auf und ging verschiedenen Teilzeit- und Gelegenheitsbeschäftigungen in Bars und als Verkäufer nach. Danach war er in den Vereinigten Staaten und in Afrika erwerbstätig. Ende Mai 1998 begab sich Herr Collins wieder in das Vereinigte Königreich, um dort eine Arbeit im Bereich der Sozialfürsorge zu suchen. Als er acht Tage nach seiner Ankunft die Beihilfe für Arbeitsuchende beantragte, wurde ihm diese gemäß dem britischen Recht verweigert, weil er seinen gewöhnlichen Aufenthalt nicht im Vereinigten Königreich habe.
Laut Europäischem Gerichtshof darf eine nationale Regelung die Gewährung einer Beihilfe für Arbeitssuchende an ein Aufenthaltserfordernis knüpfen, wenn die verlangte Mindestaufenthaltsdauer nicht über das hinausgeht, was erforderlich ist, um sicherzustellen, dass die betreffende Person tatsächlich eine Beschäftigung in dem jeweiligen Mitgliedstaat sucht.
Das Urteil:
1. Eine Person in der Situation des Klägers des Ausgangsverfahrens ist kein Arbeitnehmer im Sinne von Titel II des Ersten Teils der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft in der durch die Verordnung (EWG) Nr. 2434/92 des Rates vom 27. Juli 1992 geänderten Fassung. Es ist jedoch Sache des nationalen Gerichts, zu prüfen, ob der im nationalen Recht verwendete Begriff des „Arbeitnehmers“ in diesem Sinne zu verstehen ist.
2. Eine Person in der Situation des Klägers des Ausgangsverfahrens hat allein aufgrund der Richtlinie 68/360/EWG des Rates vom 15. Oktober 1968 zur Aufhebung der Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen für Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten und ihre Familienangehörigen innerhalb der Gemeinschaft kein Aufenthaltsrecht im Vereinigten Königreich.
3. Der Anspruch auf Gleichbehandlung aus Artikel 48 Absatz 2 EG-Vertrag (jetzt Artikel 39 Absatz 2 EG) in Verbindung mit den Artikeln 6 EG-Vertrag (jetzt Artikel 12 EG) und 8 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 17 EG) steht einer nationalen Regelung nicht entgegen, die die Gewährung einer Beihilfe für Arbeitsuchende an ein Wohnorterfordernis knüpft, sofern dieses Erfordernis auf objektiven, von der Staatsangehörigkeit der Betroffenen unabhängigen Erwägungen beruht und in angemessenem Verhältnis zu dem Zweck steht, der mit den nationalen Rechtsvorschriften zulässigerweise verfolgt wird.
Die Pressemitteilung:
Urteil des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache C-138/02: Brian Francis Collins / Secretary of State for Work and Pensions
Pressemitteilung des Europäischen Gerichtshofs Nr. 22/04 vom 23. März 2004
Der Gerichtshof prüft, inwieweit eine nationale Regelung die Gewährung einer Beihilfe für Arbeitssuchende an ein Aufenthaltserfordernis knüpfen darf.
Ein solches Erfordernis ist nur dann verhältnismäßig, wenn die verlangte Mindestaufenthaltsdauer nicht über das hinausgeht, was erforderlich ist, um sicherzustellen, dass die betreffende Person tatsächlich eine Beschäftigung in dem jeweiligen Mitgliedstaat sucht
Um die Beihilfe für Arbeitsuchende (Jobseeker’s Allowance) zu erhalten, muss ein Antragsteller ohne Unterhaltsverpflichtung nach britischem Recht seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Vereinigten Königreich, in der Republik Irland, auf den Kanalinseln oder auf der Insel Man haben, Arbeitnehmer im Sinne einer Verordnung der Gemeinschaft von 1968 sein oder nach einer Richtlinie von 1968 ein Aufenthaltsrecht im Vereinigten Königreich haben.
Der in den Vereinigten Staaten geborene Brian Francis Collins besitzt die amerikanische und die irische Staatsangehörigkeit. 1980 und 1981 hielt er sich ungefähr zehn Monate lang im Vereinigten Königreich auf und ging Teilzeit- und Gelegenheitsbeschäftigungen in Bars und als Verkäufer nach. Am 31. Mai 1998 kehrte er in das Vereinigte Königreich zurück, um dort eine Arbeit im Bereich der Sozialfürsorge zu suchen. Am 8. Juni 1998 beantragte er die Beihilfe für Arbeitsuchende, die ihm mit der Begründung verweigert wurde, dass er seinen gewöhnlichen Aufenthalt nicht im Vereinigten Königreich habe.
Herr Collins rief den Social Security Commissioner an, der dem Gerichtshof die Frage vorlegte, ob Herr Collins als Arbeitnehmer im Sinne der Verordnung von 1968 angesehen werden könne, ob er ein Recht auf Aufenthalt im Vereinigten Königreich nach der Richtlinie von 1968 habe und ob das Aufenthaltserfordernis für die Beihilfe für Arbeitsuchende mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar sei.
Der Gerichtshof stellt zunächst fest, dass die Situation von Herrn Collins im Jahr 1998 mit der jedes anderen Angehörigen eines Mitgliedstaats zu vergleichen ist, der eine erste Beschäftigung in einem anderen Mitgliedstaat sucht.
Es ist zu unterscheiden zwischen Angehörigen der Mitgliedstaaten, die im Aufnahmemitgliedstaat eine erste Beschäftigung suchen und denjenigen, die dort arbeiten oder gearbeitet haben. Für Angehörige der Mitgliedstaaten, die eine erste Beschäftigung suchen, gilt der Grundsatz der Gleichbehandlung nämlich nur für den Zugang zur Beschäftigung, während diejenigen, die bereits Zugang zum Arbeitsmarkt gefunden haben, aufgrund der Verordnung von 1968 die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen wie die inländischen Arbeitnehmer genießen. Aus diesen Gründen ist eine Person in der Situation von Herrn Collins kein Arbeitnehmer, der Anspruch auf die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen hat wie inländische Arbeitnehmer. Der Gerichtshof stellt jedoch fest, dass der Begriff des Arbeitnehmers in einigen Bestimmungen der Verordnung von 1968 ein einem weiteren Sinne zu verstehen ist. Er überlässt es daher dem nationalen Gericht, zu prüfen, in welcher der beiden Bedeutungen der Begriff des Arbeitnehmers in der fraglichen nationalen Regelung zu verstehen ist.
Der EG-Vertrag gewährt den Angehörigen der Mitgliedstaaten, die in anderen Mitgliedstaaten eine Beschäftigung suchen, ein Aufenthaltsrecht, das zeitlich begrenzt werden kann. Die in der Richtlinie von 1968 vorgesehene Gewährung des Aufenthaltsrechts ist jedoch den Angehörigen eines Mitgliedstaats vorbehalten, die bereits eine Beschäftigung im Aufnahmemitgliedstaat haben. Herr Collins hat also allein aufgrund dieser Richtlinie kein Aufenthaltsrecht im Vereinigten Königreich.
Schließlich fallen Angehörige eines Mitgliedstaats, die in einem anderen Mitgliedstaat eine Beschäftigung suchen, in den Anwendungsbereich der Bestimmungen des Vertrages über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer und haben daher Anspruch auf die dort vorgesehene Gleichbehandlung. Angesichts der Einführung der Unionsbürgerschaft umfasst dieses Recht auf Gleichbehandlung auch finanzielle Leistungen wie die Beihilfe für Arbeitsuchende. Daher darf ein Bürger, der in einem anderen Mitgliedstaat eine Beschäftigung sucht, nicht aufgrund seiner Staatsangehörigkeit diskriminiertwerden, wenn er eine solcheBeihilfe beantragt.
Die nationale Regelung über die Beihilfe für Arbeitsuchende führt eine unterschiedliche Behandlung ein, die davon abhängt, ob der Antragsteller seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Vereinigten Königreich hat. Da diese Voraussetzung von britischen Staatsangehörigen leichter erfüllt werden kann, benachteiligt die Regelung die Angehörigen der Mitgliedstaaten, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben. Ein Aufenthaltserfordernis wäre nur dann gerechtfertigt, wenn es auf objektiven, von der Staatsangehörigkeit der Betroffenen unabhängigen Erwägungen beruhte und in einem angemessenen Verhältnis zu dem Zweck stünde, der damit zulässigerweise verfolgt wird. Die Beihilfe für Arbeitsuchende ist eine Leistung der sozialen Sicherheit, die u. a. voraussetzt, dass eine Person, die sie beantragt, dem Arbeitsmarkt zur Verfügung steht, dass sie aktiv nach einer Beschäftigung sucht und dass ihr Einkommen und Vermögen bestimmte Beträge nicht überschreiten. Es kann als legitim angesehen werden, dass ein Mitgliedstaat eine solche Beihilfe erst gewährt, nachdem das Bestehen einer tatsächlichen Verbindung des Arbeitsuchenden mit dem Arbeitsmarkt dieses Mitgliedstaats festgestellt wurde. Das Bestehen einer solchen Verbindung kann sich aus der Feststellung ergeben, dass der Betroffene während eines angemessenen Zeitraums tatsächlich eine Beschäftigung in dem betreffenden Mitgliedstaat gesucht hat. Die verlangte Aufenthaltsdauer ist jedoch nur dann verhältnismäßig, wenn sie nicht über das hinausgeht, was erforderlich ist, damit die nationalen Behörden sicherstellen können, dass die betreffende Person tatsächlich eine Beschäftigung in dem betreffenden Mitgliedstaat sucht.