Kostenübernahme einer Behandlung in Drittstaaten
Eine Überweisung in einen Drittstaat liegt im Ermessen des behandelnden Mitgliedstaates
(C - 145/03 vom 12.05.2005, Keller)
Der Fall:
Während eines Aufenthaltes in Deutschland wurde bei der in Spanien lebenden deutschen Staatsangehörigen Anette Keller ein bösartiger Tumor diagnostiziert. Sie wurde daraufhin in Deutschland unter Vorlage aller notwengigen Formblätter behandelt. Die behandelnden Ärzte überwiesen Frau Keller an eine Klinik in der Schweiz, da eine erforderliche Operation nur dort mit realen Erfolgschancen durchgeführt werden konnte.
Laut Europäischem Gerichtshof ist der zuständige spanische Träger in diesem Fall zur Übernahme der Kosten verpflichtet.
Das Urteil:
Artikel 22 Absatz 1 Buchstabe a Ziffer i und Buchstabe c Ziffer i der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, und Artikel 22 Absätze 1 und 3 der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der Verordnung Nr. 1408/71 in ihrer durch die Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 geänderten und aktualisierten Fassung sind dahin auszulegen, dass der zuständige Träger, der mit der Ausstellung eines Formblatts E 111 oder E 112 darin eingewilligt hat, dass einer seiner Sozialversicherten eine medizinische Behandlung in einem anderen als dem zuständigen Mitgliedstaat erhält, an die während der Gültigkeitsdauer des Formblatts von vom Träger des Aufenthaltsmitgliedstaats autorisierten Ärzten getroffenen Feststellungen hinsichtlich der Erforderlichkeit einer dringenden lebensnotwendigen Behandlung sowie an die während desselben Zeitraums auf der Grundlage dieser Feststellungen und der augenblicklichen medizinischen Erkenntnisse getroffene Entscheidung dieser Ärzte, den Betreffenden in ein Krankenhaus eines anderen Staates zu verlegen, auch wenn es sich um einen Drittstaat handelt, gebunden ist. Jedoch ist in einem solchen Fall nach Artikel 22 Absatz 1 Buchstabe a Ziffer i und Buchstabe c Ziffer i der Verordnung Nr. 1408/71 der Anspruch des Versicherten auf die für Rechnung des zuständigen Trägers erbrachten Sachleistungen von der Voraussetzung abhängig, dass der Träger des Aufenthaltsmitgliedstaats nach den für ihn geltenden Rechtsvorschriften gehalten ist, einer bei ihm versicherten Person die einer solchen Behandlung entsprechenden Sachleistungen zu erbringen.
Unter derartigen Umständen ist der zuständige Träger nicht berechtigt, von dem Betreffenden die Rückkehr in den zuständigen Mitgliedstaat zu verlangen, um ihn dort einer medizinischen Untersuchung zu unterziehen, oder ihn im Aufenthaltsmitgliedstaat untersuchen zu lassen oder die oben erwähnten Feststellungen und Entscheidungen von seiner Zustimmung abhängig zu machen.
Haben sich vom Träger des Aufenthaltsmitgliedstaats autorisierte Ärzte aus Gründen einer lebensbedrohlichen Notsituation und in Anbetracht der augenblicklichen medizinischen Erkenntnisse für eine Verlegung des Versicherten in ein Krankenhaus eines Drittstaats entschieden, so ist Artikel 22 Absatz 1 Buchstabe a Ziffer i und Buchstabe c Ziffer i der Verordnung Nr. 1408/71 dahin auszulegen, dass die Kosten der in diesem letztgenannten Staat vorgenommenen Behandlung vom Träger des Aufenthaltsmitgliedstaats nach den für ihn geltenden Rechtsvorschriften unter gleichen Bedingungen, wie sie für die Sozialversicherten bestehen, die unter diese Rechtsvorschriften fallen, zu übernehmen sind. Was Behandlungen angeht, die zu den in den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats vorgesehenen Leistungen gehören, so hat sodann der Träger dieses Staates die Kosten der erbrachten Leistungen zu übernehmen, indem er dem Träger des Aufenthaltsmitgliedstaats unter den Bedingungen des Artikels 36 der Verordnung Nr. 1408/71 Erstattung leistet.
Sind die Kosten einer Behandlung in einer Einrichtung eines Drittstaats nicht vom Träger des Aufenthaltsmitgliedstaats übernommen worden, ist aber erwiesen, dass die betreffende Person Anspruch auf eine solche Übernahme hatte und dass diese Behandlung zu den in den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats vorgesehenen Leistungen gehört, so hat der zuständige Träger die Kosten dieser Behandlung unmittelbar dieser Person oder ihren Rechtsnachfolgern zu erstatten, um so ein Kostenübernahmeniveau zu garantieren, das dem gleichwertig ist, das für diese Person gegolten hätte, wenn Artikel 22 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 angewandt worden wäre.
Die Pressemitteilung:
Urteil des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache C-145/03: Erben der Annette Keller / Instituto Nacional de la Seguridad Social (INSS), InstitutoNacional de Gestión Sanitaria (Ingesa), vormals Instituto Nacional de Salud (Insalud)
Pressemitteilung des Europäischen Gerichtshofs Nr. 31/05 vom12. April 2005
Die Behandlungskosten einer Person, die im Besitz der Formblätter E 111 Und E 112 ist und die wegen eines medizinischen Notfalls im Krankenhaus eines Drittstaats behandelt werden muss, sind vom Sozialversicherungsträger des Aufenthaltsmitgliedstaates nach dessen Vorschriften für Rechnung des Trägers des Mitgliedstaats der Versicherungszugehörigkeit zu übernehmen.
Die deutsche Staatsangehörige Annette Keller, die in Spanien wohnte, beantragte zum Zweck einer Reise nach Deutschland beim zuständigen spanischen Träger (Insalud) ein Formblatt E 1111 für die Dauer eines Monats.
Während ihres Aufenthalts in Deutschland wurde bei ihr ein bösartiger Tumor diagnostiziert, der jederzeit zum Tod führen konnte. Sie beantragte beim Insalud die Ausstellung eines Formblatts E 1122, um sich weiterhin in Deutschland behandeln lassen zu können. Die Gültigkeitsdauer dieses Formblatts wurde mehrfach verlängert.
Nach einer gründlichen Analyse der Therapiemöglichkeiten beschlossen die deutschen Ärzte, Frau Keller in das Universitätsspital Zürich (Schweiz) zu verlegen. Dies war die einzige Klinik, in der die Operation, der sich Frau Keller unterziehen musste, mit realen Erfolgsaussichten durchgeführt werden konnte.
Frau Keller zahlte die Kosten ihrer Behandlung in Zürich selbst und beantragte später beim Insalud deren Erstattung.
Nach Ablehnung ihres Antrags erhob sie Klage. Das nationale Gericht hat den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften um eine Auslegung der Verordnung von 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Wanderarbeitnehmer3 hinsichtlich der Möglichkeit einer Erstattung der Kosten einer Krankenhausbehandlung in einem Drittstaat ersucht.
Der Gerichtshof erinnert zunächst daran, dass eines der Ziele der Verordnung von 1971 darin besteht, die Freizügigkeit der Sozialversicherten zu erleichtern, die während eines Aufenthalts in einem anderen Mitgliedstaat medizinische Leistungen benötigen oder die im Besitz einer Genehmigung sind, sich in einem anderen Mitgliedstaat behandeln zu lassen.
Die Formblätter E 111 und E 112 zielen darauf ab, für den Träger des
Aufenthaltsmitgliedstaats und die von diesem Träger autorisierten Ärzte zu gewährleisten, dass der Kranke berechtigt ist, in diesem Mitgliedstaat - während des im Formblatt angegebenen Zeitraums und zu den Bedingungen, die für seine Versicherten gelten - eine Behandlung zu erhalten, deren Kosten vom Mitgliedstaat der Versicherungszugehörigkeit getragen werden.
Sodann stellt der Gerichtshof klar, dass die Ärzte im Aufenthaltsmitgliedstaat am besten in der Lage sind, zu beurteilen, welche Behandlung der Kranke benötigt, und dass der Träger des Mitgliedstaats der Versicherungszugehörigkeit während der Gültigkeitsdauer des Formblatts dem Träger des Aufenthaltsmitgliedstaats und den von diesem Träger autorisierten Ärzten, deren berufliche Garantien als gleichwertig mit denen der im Inland niedergelassenen Ärzte angesehen werden, vertraut.
Folglich ist der Träger des Mitgliedstaats der Versicherungszugehörigkeit an die
Beurteilung der vom Träger des Aufenthaltsmitgliedstaats autorisierten Ärzte
hinsichtlich der Erforderlichkeit einer dringenden lebensnotwendigen Behandlung und an die Entscheidung dieser Ärzte gebunden, den Kranken in einen anderen Staat zu verlegen, damit ihm die dringende Behandlung zuteil wird, die ihm die Ärzte im Aufenthaltsmitgliedstaats nicht bieten können.
In diesem Zusammenhang ist es ohne Bedeutung, dass der Staat, in den der Kranke nach der Entscheidung der Ärzte verlegt wird, nicht Mitglied der Europäischen Union ist.
Der Träger des Mitgliedstaats der Versicherungszugehörigkeit ist nicht berechtigt, von dem Betreffenden die Rückkehr in den Mitgliedstaat des Wohnorts zu verlangen, um ihn dort einer medizinischen Untersuchung zu unterziehen, oder ihn im Aufenthaltsmitgliedstaat untersuchen zu lassen oder die Feststellungen und medizinischen Entscheidungen von seiner Zustimmung abhängig zu machen.
Was die Übernahme der Kosten einer medizinischen Behandlung angeht, die in einem Drittstaat infolge einer medizinischen Entscheidung über die Verlegung vorgenommen wird, so gilt nach den Ausführungen des Gerichtshofes der Grundsatz, dass der Träger des Aufenthaltsmitgliedstaats die Kosten dieser Behandlung nach den für ihn geltenden Rechtsvorschriften unter der Voraussetzung übernimmt, dass der Träger des Mitgliedstaats der Versicherungszugehörigkeit später dem Träger des Aufenthaltsmitgliedstaats Erstattung leistet.
Der Gerichtshof hat entschieden, dass, soweit im vorliegenden Fall die Kosten der in der Schweiz durchgeführten Behandlung damals nicht von der deutschen
Krankenversicherung übernommen wurden, aber erwiesen ist, dass Frau Keller
Anspruch auf eine solche Übernahme hatte und die fragliche Behandlung zu den in den spanischen Sozialversicherungsvorschriften vorgesehenen Leistungen gehört, der spanische Sozialversicherungsträger die Kosten dieser Behandlung unmittelbar den Erben von Frau Keller zu erstatten hat.
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1 Das Formblatt E 111 gewährt dem Versicherten, dessen Gesundheitszustand während eines Aufenthalts in einem anderen Mitgliedstaat eine unverzügliche Behandlung notwendig macht, Anspruch auf Sachleistungen in diesem Mitgliedstaat.
2 Mit dem Formblatt E 112 erhält ein Versicherter die Genehmigung, sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, um dort eine seinem Zustand angemessene medizinische Behandlung zu erhalten.
3 Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft
zu- und abwandern.
Originaltext des Urteils:
Urteil des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache C-145/03 :
Erben der Annette Keller / Instituto Nacional de la Seguridad Social (INSS), InstitutoNacional de Gestión Sanitaria (Ingesa), vormals Instituto Nacional de Salud (Insalud)