Anspruch auf Pflegegeld
Gewährung darf nicht an Wohnsitz geknüpft werden
(C - 215/99 vom 08.03.2001, Jauch)
Der Fall:
Der in Lindau, nahe der österreichischen Grenze wohnhafte, deutsche Staatsbürger Friedrich Jauch war von 1941 bis 1981 in Österreich beschäftigt und versichert. Seit 1995 bezieht Herr Jauch von der österreichischen Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter eine Pension. Sein 1998 gestellter Antrag auf Zahlung von Pflegegeld wurde von dem österreichischen Leistungsträger mit der Begründung abgelehnt, dass dieses nur an Personen mit Wohnsitz in Österreich gezahlt werde.
Laut Europäischem Gerichtshof sind die das Pflegegeld betreffenden österreichischen sozialrechtlichen Vorschriften mit dem Gemeinschaftsrecht nicht vereinbar, da sie gegen den Grundsatz der Exportierbarkeit von Leistungen der sozialen Sicherheit verstoßen. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz, die bei Sonderleistungen sowie bei beitragsunabhängigen Leistungen eingreift, ist bei der Zahlung von Pflegegeld nicht zu machen.
Das Urteil:
Es verstößt gegen Artikel 19 Absatz 1 und die entsprechenden Bestimmungen der anderen Abschnitte des Kapitels 1 des Titels III der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die
innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 geänderten und aktualisierten Fassung, den Anspruch auf die Leistung von Pflegegeld nach dem Bundespflegegeldgesetz davon abhängig zu machen, dass der Pflegebedürftige seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich hat.
Die Pressemitteilung:
Urteil des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache C-215/99: Friedrich Jauch / Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter
Pressemitteilung des Europäischen Gerichtshof Nr. 09/01 vom 08. März 2001
Die Zahlung des im Österreichischen Recht vorgesehenen Pflegegeldes für pflegebedürftige Personen kann nicht vom Wohnsitz der Begünstigten in Österreich abhängig gemacht werden.
Nach Ansicht des Gerichshofes ist das Pflegegeld keine Sonderleistung und nicht beitragsunabhängig. Seine Zahlung kann daher nicht vom Wohnsitz abhängen.
Der Kläger ist deutscher Staatsangehöriger und war immer in Lindau, einer deutschen Stadt in der Nähe der Grenze zu Österreich, wohnhaft.
Von Mai 1941 bis Juni 1958 in dieser Zeit war er pflichtversichert und von Juli 1958 bis November 1981 in dieser Zeit war er freiwillig versichert war er in Österreich beschäftigt. Seit dem 1. Mai 1995 bezieht er eine Pension von der österreichischen Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter.
Vom 1. September 1996 bis zum 31. August 1998 bezog er Pflegegeld von der deutschen Allgemeinen Ortskrankenkasse. Diese stellte die Zahlungen 1998 ein, da sie auf ein Urteil des Gerichtshofes hin die Ansicht vertrat, das Pflegegeld ähnele einer Geldleistung bei Krankheit, die als solche vom österreichischen System gezahlt werden müsse.
Am 7. September 1998 lehnten auch die zuständigen österreichischen Leistungsträger einen Anspruch des Klägers auf eine Leistung im Zusammenhang mit seiner Pflegebedürftigkeit ab, und zwar mit der Begründung, das Pflegegeld für pflegebedürftige Personen, das ihre Möglichkeit, ein selbstbestimmtes und an ihren Bedürfnissen orientiertes Leben zu führen, verbessern solle, könne nach dem seit 1993 geltenden österreichischen Recht u. a. deshalb, weil es durch den Bundeshaushalt finanziert werde, nur an Personen mit gewöhnlichem Aufenthalt in Österreich gezahlt werden.
Das mit dem Rechtsstreit befasste österreichische Gericht (Landesgericht Feldkirch) fragt den Gerichthof nach der Vereinbarkeit der betreffenden österreichischen sozialrechtlichen Vorschriften mit der Gemeinschaftsregelung zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbstständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- oder abwandern.
Der Zweck dieser Regelung besteht in der Herstellung größtmöglicher Freizügigkeit der Wanderarbeitnehmer. Ihre Anwendung muss es daher den Arbeitnehmern, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch machen, ermöglichen, die Vergünstigungen der sozialen Sicherheit, die ihnen die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats sichern, nicht zu verlieren, insbesondere wenn diese Vergünstigungen die Gegenleistung der von diesen Arbeitnehmern gezahlten Beiträge darstellen.
Die Gemeinschaftsregelung sieht Ausnahmen von diesem Grundsatz vor. Der Gemeinschaftsgesetzgeber kann nämlich Vorschriften erlassen, die Ausnahmen vom Grundsatz der Exportierbarkeit von Leistungen der sozialen Sicherheit vorsehen. Der Gerichtshof weist darauf hin, dass diese Ausnahmen eng auszulegen seien. Sie seien nur auf Leistungen anwendbar, die sowohl Sonderleistungen als auch beitragsunabhängig seien.
Der Gerichthof prüft daher zunächst, ob es sich bei dem Pflegegeld um eine Sonderleistung handelt. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass diese Sozialleistung aufgrund der Umstände ihrer Gewährung und ihrer Finanzierungsweise einer Leistung bei Krankheit im Sinne der Gemeinschaftsregelung ähnele. Es werde nur Beziehern einer Rente aufgrund eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit gewährt. Es erfülle somit nicht diese erste Voraussetzung.
In einem zweiten Schritt prüft der Gerichtshof, ob diese Leistung beitragsunabhängig ist. Er weist insoweit darauf hin, dass es dem Gesetzgeber eines Mitgliedstaats nicht verboten sei, unterschiedliche Systeme der sozialen Sicherheit für verschiedene soziale oder berufliche Gruppen zu schaffen, und dass nationale Rechtsvorschriften die Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit in der Weise gestalten könnten, dass sie anders als andere Leistungen bei Krankheit finanziert werde. Nach Ansicht des Gerichtshofes wurde die Finanzierung des Pflegegeldes jedoch nur durch eine Erhöhung der Krankenversicherungsbeiträge und eine Kürzung der Beteiligung des Staates an der Finanzierung der Krankenversicherungsleistungen ermöglicht. Somit sei sie beitragsabhängig.
Der Gerichtshof vertritt die Ansicht, das in der österreichischen Regelung vorgesehene Pflegegeld erfülle daher nicht die Voraussetzungen für eine Ausnahme vom Gemeinschaftsgrundsatz der Exportierbarkeit von Leistungen der sozialen Sicherheit. Es könne daher nicht vom Wohnsitz abhängig gemacht werden.
Originaltext des Urteils:
Urteil des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache C-215/99:
Friedrich Jauch /Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter