Erstattung der Pflegekosten bei Krankenhausaufenthalt in anderem Mitgliedstaat
Muss in gleicher Höhe erfolgen wie bei einer Behandlung im eigenen Mitgliedstaat
(C - 368/98 vom 12.07.2001, Vanbraekel u. a.)
Der Fall:
Im Februar 1990 beantragte die in Belgien wohnhafte, belgische Staatsangehörige Frau Descamps bei ihrer Krankenkasse erfolglos die Genehmigung für einen chirurgischen Eingriff in Frankreich. Trotz des Fehlens der Genehmigung ließ sie sich im April 1990 dort operieren. Sodann klagte sie auf anteilige Erstattung der Kosten durch die Krankenkasse zu den in Belgien praktizierten Sätzen, die höher ausfallen als diejenigen in Frankreich. Im Dezember 1994 wurde aufgrund eines Sachverständigengutachtens festgestellt, dass der Eingriff im Ausland notwendig war, um die Gesundheit von Frau Descamps wiederherzustellen.
Laut Europäischem Gerichtshof muss dem Betroffenen bei einer ungerechtfertigten Ablehnung eines Genehmigungsantrages unmittelbar eine Kostenerstattung in der Höhe gewährt werden, wie sie der Träger des Aufenthaltsortes gemäß den für ihn geltenden Regelungen zu erbringen gehabt hätte, wenn die Genehmigung von Anfang an ordnungsgemäß erteilt worden wäre.
Das Urteil:
1. Artikel 22 Absatz 1 Buchstabe c in Verbindung mit Ziffer i der Verordnung Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbstständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 geänderten und aktualisierten Fassung ist so auszulegen, dass, wenn ein Sozialversicherter vom zuständigen Träger die Genehmigung erhalten hat, sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, um sich dort behandeln zu lassen, der Träger des Aufenthaltsorts verpflichtet ist, ihm Sachleistungen nach den für ihn geltenden Bestimmungen über die Kostenübernahme für Leistungen der Gesundheitspflege zu erbringen, als ob der Betroffene bei ihm versichert wäre.
Wurde ein Genehmigungsantrag, den ein Sozialversicherter gemäß Artikel 22 Absatz 1 Buchstabe c der Verordnung Nr. 1408/71 gestellt hat, durch den zuständigen Träger abgelehnt und wird die Unbegründetheit dieser Ablehnung später festgestellt, so hat der Betroffene einen unmittelbaren Anspruch gegen den zuständigen Träger auf eine Erstattung in der Höhe, wie sie der Träger des Aufenthaltsorts gemäß der Regelung nach den für ihn geltenden Rechtsvorschriften zu erbringen gehabt hätte, wenn die Genehmigung von Anfang an ordnungsgemäß erteilt worden wäre.
Artikel 22 der Verordnung Nr. 1408/71 soll keine Erstattung zu den im Mitgliedstaat der Versicherungszugehörigkeit geltenden Sätzen regeln und hindert daher weder an der Gewährung einer ergänzenden Erstattung gemäß dem Unterschied zwischen der Beteiligungsregelung nach den Vorschriften dieses Staates und der für den Aufenthaltsmitgliedstaat geltenden Regelung noch schreibt er eine solche Erstattung vor, wenn die erstere Regelung günstiger als die letztere ist und die Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats der Versicherungszugehörigkeit eine solche Erstattung vorsehen.
Artikel 59 des Vertrages ist so auszulegen, dass dann, wenn die Erstattung von Kosten, die durch in einem Aufenthaltsmitgliedstaat erbrachte Krankenhausdienstleistungen veranlasst worden sind, die sich aus der Anwendung der in diesem Staat geltenden Regelung ergibt, niedriger als diejenige ist, die sich aus der Anwendung der im Mitgliedstaat der Versicherungszugehörigkeit geltenden Rechtsvorschriften im Fall einer Krankenhauspflege in diesem Staat ergeben würde, dem Sozialversicherten vom zuständigen Träger eine ergänzende Erstattung gemäß dem genannten Unterschied zu gewähren ist.
2. Artikel 36 der Verordnung Nr. 1408/71 in der durch die Verordnung Nr. 2001/83 geänderten und aktualisierten Fassung kann nicht so ausgelegt werden, dass danach ein Sozialversicherter, der einen Genehmigungsantrag gemäß Artikel 22 Absatz 1 Buchstabe c der Verordnung Nr. 1408/71 gestellt hat und dem dieser Antrag vom zuständigen Träger abgelehnt worden ist, Anspruch auf die Erstattung sämtlicher Krankheitskosten hat, die ihm in dem Mitgliedstat entstanden sind, in dem er behandelt worden ist, wenn sich die Ablehnung seines Genehmigungsantrags als unbegründet erweist.
Die Pressemitteilung:
Urteil des Gerichtshofes in der Rechtssache C-368/98: Abdon Vanbraekel u. a. / Alliance nationale des mutualités chrétiennes (ANMC)
Pressemitteilung des Europäischen Gerichtshofs Nr. 33/01 vom 12. Juli 2001
Ein Sozialversicherter, dem die Genehmigung einer Krankenhauspflege in einem anderen Mitgliedstaat als dem Staat seiner Versicherungszugehörigkeit zu Unrecht verweigert wurde, hat dennoch Anspruch auf Erstattung der entstandenen Kosten, wenn ihm die Genehmigung nach dieser Krankenhauspflege, gegebenenfalls auf dem Rechtsweg, erteilt wurde.
Die Erstattung muss mindestens derjenigen entsprechen, die gewährt worden wäre, wenn der Versicherte im Mitgliedstaat seiner Versicherungszugehörigkeit im Krankenhaus gepflegt worden wäre.
Frau Descamps, eine in Belgien wohnende belgische Staatsangehörige, beantragte bei ihrer Krankenkasse die Genehmigung für einen orthopädisch-chirurgischen Eingriff in Frankreich. Diese Genehmigung wurde zunächst abgelehnt, weil der Antrag unzureichend begründet sei, da Frau Descamps nicht das Gutachten eines in einer belgischen Universität tätigen Arztes vorgelegt habe.
Frau Descamps ließ sich im April 1990 trotzdem operieren. Sie erhob dann vor den belgischen Gerichten Klage gegen ihre Krankenkasse auf anteilige Erstattung der Kosten zu den in Belgien praktizierten Sätzen (49 935,44 FRF), nicht zu den in Frankreich praktizierten (38 608,89 FRF).
Im Dezember 1994 bestätigte das Gutachten eines von der Cour du travail Mons ernannten Sachverständigen, dass ein solcher Eingriff in Belgien nicht üblich sei und dass die Wiederherstellung der Gesundheit von Frau Descamps sehr wohl einen Krankenhausaufenthalt im Ausland erforderte. Nachdem Frau Descamps im Laufe des Verfahrens starb, haben ihre Erben, Herr Vanbraekel und seine Kinder, das Verfahren aufgenommen.
Die Cour du travail Mons fragt den Gerichtshof der EG, ob, wenn festgestellt worden ist, dass eine Krankenhauspflege in einem anderen Mitgliedstaat hätte genehmigt werden müssen, die Erstattung der anteiligen Kosten der Krankenhauspflege nach der Regelung des Staates des zuständigen Trägers (im vorliegenden Fall der belgischen Krankenkasse) oder nach der Regelung des Staates zu erfolgen hat, in dem die Krankenhauspflege stattfand (im vorliegenden Fall nach der französischen Regelung).
Letztlich wird der Gerichtshof gefragt, nach welchen Gemeinschaftsrechtsvorschriften die Erstattung zu erfolgen hat, wenn die nach der Gemeinschaftsregelung vorgesehene Genehmigung der Krankenhauspflege in einem anderen Mitgliedstaat gegebenenfalls im Rechtsweg erlangt worden ist.
Der Gerichtshof verweist darauf, dass durch die Gemeinschaftsregelung ein System eingeführt worden ist, welches gewährleistet, dass ein Sozialversicherter, der die Genehmigung für den Bezug von Sachleistungen in einem anderen Mitgliedstaat als dem Staat seiner Versicherungszugehörigkeit erhalten hat, in dem Mitgliedstaat, in dem die Pflege durchgeführt wird, ebenso günstige Bedingungen erhält, wie sie für die Sozialversicherten gelten, die den Rechtsvorschriften des letztgenannten Staates unterliegen. Daher müssen die in dem Staat, in dem die Behandlung erfolgt, geltenden Modalitäten der Kostenübernahme angewandt werden.
Eine derartige Kostenübernahme obliegt grundsätzlich bei Sachleistungen den Versicherungsträgern des Staates, in dem die Behandlung erfolgt, und sie sind diesen später von dem Träger zu erstatten, dem der Versicherte angeschlossen ist.
Wenn eine derartige Kostenübernahme wegen einer ungerechtfertigten Ablehnung der Genehmigung durch den Träger, dem der Versicherte angeschlossen ist, nicht erfolgen konnte, muss dieser Träger dem Versicherten unmittelbar eine Erstattung in der Höhe gewähren, in der sie normalerweise zu erbringen gewesen wäre, wäre die Genehmigung erteilt worden.
Der Gerichtshof führt weiter aus, dass die medizinischen Tätigkeiten sehr wohl unter die Dienstleistungsfreiheit fallen. Im Übrigen muss eine nationale Regelung einem Versicherten, dem eine Krankenhauspflege im Ausland genehmigt worden ist, Kostenübernahme in gleicher Höhe gewährleisten, wie sie ihm gewährt worden wäre, wenn er in seinem eigenen Mitgliedstaat im Krankenhaus behandelt worden wäre.
Daher stellt der Gerichtshof fest, dass der im EG-Vertrag geregelte Grundsatz des freien Dienstleistungsverkehrs einer nationalen Regelung entgegensteht, die die Gewährung einer ergänzenden Erstattung verhindert, welche dem Unterschied zwischen dem niedrigeren Erstattungssatz des Aufenthaltsstaates, in dem die Krankenhausbehandlung erfolgt, und dem günstigeren Satz nach der Sozialversicherungsregelung des Staates der Versicherungszugehörigkeit entspricht.
Zwar kann eine erhebliche Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts eines nationalen Systems der sozialen Sicherheit einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses darstellen, der eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs zu rechtfertigen vermag. Doch besteht nach Auffassung des Gerichtshofes kein Anhaltspunkt dafür, dass die Zahlung der ergänzenden Erstattung, um die es geht, eine zusätzliche finanzielle Belastung für das Krankenversicherungssystem des Staates der ursprünglichen Versicherungszugehörigkeit bedeutet, die die Erhaltung eines bestimmten Umfangs der medizinischen und pflegerischen Versorgung oder eines bestimmten Niveaus der Heilkunde im Inland gefährden würde.
Originaltext des Urteils:
Urteil des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache C-368/98:
Abdon Vanbraekel u. a. /Alliance nationale des mutualités chrétiennes (ANMC)