Sondersysteme für Beamte und ihnen Gleichgestellte
Beschäftigungszeiten in anderen Mitgliedstaaten sind zu berücksichtigen
(C-443/93 vom 22.11.1995, Vougioukas)
Der Fall:
Der griechische Staatsangehörige Ioannis Vougioukas ist festangestellter Arzt beim IKA (griechische Sozialversicherungsanstalt), bei dem es sich um eine Person des öffentlichen Rechts handelt. Aufgrund dieser Eigenschaft gelten die Vorschriften über den Versorgungsanspruch der Beamten der Zivilverwaltung für die Renten der festangestellten Ärzte des IKA entsprechend, soweit nichts anderes bestimmt ist. Aus dieser Regelung ergibt sich, dass für die Begründung des Rentenanspruchs außer den Zeiten der Beschäftigung beim IKA Zeiten, während deren der Arztberuf ausgeübt worden ist, berücksichtigt werden können, sofern ein besonderer Nachversicherungsbeitrag in Höhe von 5 % der im Zeitpunkt der Antragstellung bezogenen gewöhnlichen monatlichen Vergütung für einen Zeitraum gezahlt wird, der der Dauer der anerkannten Dienstzeiten entspricht. 1988 beantragte Herr Vougioukas, die Zeiten, die er zwischen 1964 und 1969 als Zeit in deutschen öffentlichen Krankenhäusern zurückgelegt hatte, als rentenfähig anzuerkennen. Im Zeitpunkt der Antragstellung war die Berücksichtigung dieser Zeiten für die Begründung eines Altersrentenanspruchs von Herrn Vougioukas erforderlich. Sein Antrag wurde mit der Begründung abgelehnt, dass die von ihm im Ausland zurückgelegten Dienstzeiten nicht zu den Dienstzeiten gehörten, die in den für die Ärzte des IKA geltenden Vorschriften ausdrücklich genannt seien. Seine daraufhin erhobene Klage wurde mit der Begründung abgewiesen, dass die für die festangestellten Ärzte des IKA geltenden nationalen rentenrechtlichen Vorschriften nicht vorsähen, dass im Ausland zurückgelegte Dienstzeiten einen Rentenanspruch begründeten. Darüber hinaus sei die Verordnung Soziale Sicherheit, durch die die unterschiedlichen nationalen Rechtsvorschriften in der Weise koordiniert werden, dass die Arbeitnehmer, die vom Recht auf Freizügigkeit Gebrauch machen, keine Nachteile gegenüber denjenigen erleiden, die ihre Tätigkeit nur in einem Mitgliedstaat ausüben, auf "Sondersysteme für Beamte und ihnen Gleichgestellte" und damit auf das besondere Versicherungssystem, das für die festangestellten Ärzte des IKA gelte, nicht anzuwenden.
Laut Europäischem Gerichtshof stellt das besondere Versicherungssystem, das für die festangestellten Ärzte des IKA gelte, zwar ein Sondersystem für Beamte und ihnen Gleichgestellte dar, so dass es von der Koordinierung der für die übrigen Arbeitnehmer geltenden allgemeinen Systeme ausgenommen ist. Jedoch seien in deutschen öffentlichen Krankenhäusern zurückgelegte Beschäftigungszeiten entsprechenden in Griechenland zurückgelegten Zeiten gleichzustellen. Der Umstand, dass nur in griechischen öffentlichen Krankenhäusern zurückgelegte Beschäftigungszeiten, nicht aber in entsprechenden Einrichtungen anderer Mitgliedstaaten zurückgelegte Zeiten als rentenfähig anerkannt würden, stelle ein schwerwiegendes Hindernis für die Freizügigkeit dar.
Das Urteil:
1. Der Begriff "Beamter" in Artikel 4 Absatz 4 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 geänderten und aktualisierten Fassung bezieht sich nicht nur auf die Beamten, für die die Ausnahmeregelung des Artikels 48 Absatz 4 des Vertrages1 gemäß der Auslegung durch den Gerichtshof gilt, sondern auf alle in einer öffentlichen Verwaltung beschäftigten Beamten und ihnen Gleichgestellte.
2. Für die Qualifizierung als "Sondersystem" im Sinne von Artikel 4 Absatz 4 der Verordnung Nr. 1408/71 genügt es, dass sich das betreffende System der sozialen Sicherheit von dem allgemeinen System der sozialen Sicherheit unterscheidet, das auf die Arbeitnehmer des Mitgliedstaats anwendbar ist, zu dem es gehört, und dass es für alle Beamten oder für bestimmte Beamtengruppen unmittelbar gilt oder auf ein in diesem Mitgliedstaat bereits bestehendes System der sozialen Sicherheit für Beamte verweist, ohne dass dabei andere Gesichtspunkte zu berücksichtigen wären.
3. Die Artikel 48 und 512 EG-Vertrag sind dahin auszulegen, dass sie der Nichtberücksichtigung von Beschäftigungszeiten für die Begründung des Rentenanspruchs entgegenstehen, die jemand, der wie ein festangestellter Arzt des IKA einem Sondersystem für Beamte und ihnen Gleichgestellte unterliegt, in öffentlichen Krankenhäusern eines anderen Mitgliedstaats zurückgelegt hat, während die nationalen Rechtsvorschriften eine Berücksichtigung derartiger Zeiten zulassen, wenn sie in entsprechenden Einrichtungen im Inland zurückgelegt worden sind.
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1 Jetzt Artikel 39 Absatz 4 EG.
2 Jetzt Artikel 42 EG.
Originaltext des Urteils:
Urteil des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache C-443/93: Vougioukas