Gleichzeitige Ausübung selbständiger und abhängiger Tätikeiten in verschiedenen Mitgliedstaaten
Nationale Rechtsvorschriften dürfen nicht zum Verlust einer Vergünstigung der sozialen Sicherheit führen
(C-393/99 und C-394/99 vom 19.03.2002, Hervein und Lorthiois)
Der Fall:
Herr Claude Hervein, ein französischer Staatsbürger mit Wohnsitz in Frankreich, übte gleichzeitig die Funktionen eines Président- directeur général und eines Vorstandsmitglieds oder geschäftsführenden Vorstandsmitglieds in Gesellschaften mit Sitz sowohl in Frankreich als auch in Belgien aus, u. a. bei Hervillier. In Frankreich, wo Führungskräfte von Gesellschaften in Bezug auf ihre soziale Absicherung Arbeitnehmern gleichgestellt sind, war Herr Hervein der Sozialversicherung der Arbeitnehmer angeschlossen und leistete Beiträge zu ihr. Der zuständige belgische Sozialversicherungsträger verklagte Herrn Hervein und Hervillier vor dem Arbeitsgericht Tournai (Belgien) auf Zahlung von Sozialversicherungsbeiträgen für die Tätigkeit von Herrn Hervein in Belgien vom 1. Juli 1982 bis 31. Dezember 1986. Der Sozialversicherungsträger rechtfertigte die Einbeziehung von Herrn Hervein in die Sozialversicherung für Selbständige in Belgien damit, dass dieser in Belgien eine selbständige Tätigkeit nach belgischen Rechtsvorschriften ausgeübt habe, während er in Frankreich der Sozialversicherung für Arbeitnehmer angeschlossen gewesen sei. Gemäß Artikel 14c I b der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 in Verbindung mit Anhang VII dieser Verordnung unterliege eine Person, die eine selbständige Tätigkeit in Belgien und eine Tätigkeit im Lohn- und Gehaltsverhältnis in Frankreich ausübe, den Rechtsvorschriften beider Staaten.
Herr Lorthiois mit Wohnsitz in Frankreich ist Vorstandsmitglied, Vorstandsvorsitzender und Président- directeur général einer Gesellschaft mit Sitz in Frankreich. Er ist der französischen Sozialversicherung für Arbeitnehmer angeschlossen und leistete Beiträge zu ihr. Gleichzeitig übte er die Funktion des Vorstandsvorsitzenden der Comtexbel, einer Gesellschaft mit Sitz in Belgien, aus.
Aus den gleichen Gründen wie bei Herrn Hervein verklagte der belgische Sozialversicherungsträger Herrn Lorthiois und Comtexbel vor dem Arbeitsgericht Tournai (Belgien) auf Zahlung von Sozialversicherungsbeiträgen für die Tätigkeit des Herrn Lorthiois in Belgien vom 1. Januar 1987 bis zum 31. Dezember 1988.
In beiden Rechtssachen war das Arbeitsgericht Tournai (Belgien) der Auffassung, dass Herr Hervein und Herr Lorthiois eine Tätigkeit im Lohn- und Gehaltsverhältnis in Frankreich und eine selbständige Tätigkeit in Belgien ausgeübt hätten. Daher unterlägen sie nach Artikel 14c I b der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 in Verbindung mit Anhang VII dieser Verordnung auch den belgischen Vorschriften auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit. Das Gericht hatte jedoch Zweifel an der Vereinbarkeit dieser Bestimmungen mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit und der Niederlassungsfreiheit.
Laut Europäischem Gerichtshof müssen die Mitgliedstaaten, deren Rechtsvorschriften gleichzeitig gelten, in den Fällen, die von Artikel 14c I b der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 erfasst werden, die Anforderungen aus der Arbeitnehmerfreizügigkeit und der Niederlassungsfreiheit beachten. Führen die verlangten Beiträge zu keinerlei zusätzlichem Schutz, steht die Niederlassungsfreiheit der Erhebung derartiger Beiträge unmittelbar entgegen. Führen dagegen die Beiträge, die aufgrund der zwei gemäß Artikel 14c I b der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 gleichzeitig anwendbaren Regelungen verlangt werden, auf beiden Seiten zu einem zusätzlichen sozialen Schutz, so stehen die Arbeitnehmerfreizügigkeit und die Niederlassungsfreiheit der Erhebung solcher Beiträge grundsätzlich nicht entgegen.
Das Urteil:
Die Prüfung der vorgelegten Fragen hat nichts ergeben, was die Gültigkeit
- des Artikels 14c Absatz 1 Buchstabe b und des Anhangs VII der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in ihrer durch die Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 geänderten und aktualisierten Fassung und
- des Artikels 14c Buchstabe b und des Anhangs VII der Verordnung Nr. 1408/71 in der durch die Verordnung (EWG) Nr. 3811/86 des Rates vom 11. Dezember 1986 geänderten Fassung
beeinträchtigen könnte.
Gegebenenfalls obliegt es jedoch dem nationalen Gericht, das mit Rechtsstreitigkeiten wegen der Anwendung dieser Bestimmungen befasst ist, zu prüfen, ob zum einen die in diesem Zusammenhang angewandten nationalen Rechtsvorschriften in einer Weise angewandt werden, die mit den Artikeln 48 und 52 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 39 EG und Artikel 43 EG) vereinbar ist, insbesondere ob die nationalen Rechtsvorschriften, deren Anwendung gerügt wird, tatsächlich zu einem sozialen Schutz für den betroffenen Erwerbstätigen führen und ob zum anderen die betreffende Bestimmung auf Ersuchen des betroffenen Erwerbstätigen ausnahmsweise außer Betracht zu bleiben hat, weil er durch sie eine Vergünstigung der sozialen Sicherheit verlöre, über die er ursprünglich aufgrund eines Abkommens über die soziale Sicherheit zwischen zwei oder mehr Mitgliedstaaten verfügte.