Anspruch auf Invaliditätsrente
Antragstellung bei Einrichtung eines anderen Mitgliedstaats erfüllt rein formale Voraussetzungen
(C-92/81 vom 10.06.1982, Camera)
Der Fall:
Im Juli 1965 wurde Frau Camera in Belgien für arbeitsunfähig befunden. Im November 1965 gestattete ihr der Arzt ihrer belgischen Versicherungseinrichtung sich einen Monat lang, nämlich vom 15. November bis zum 14. Dezember 1965, in Italien aufzuhalten. Da sie nach Ablauf dieser Frist nicht nach Belgien zurückgekehrt war, leistete sie der Aufforderung des Arztes ihrer Versicherungseinrichtung, sich am 30. Dezember 1965 einer ärztlichen Untersuchung zu unterziehen, nicht Folge. Aufgrund einer Untersuchung, die die zuständige italienische Krankenversicherungsanstalt (INPS) am 5. Januar 1966 durchgeführt hatte, wurde sie wieder für arbeitsfähig erklärt und die Auszahlung von Krankengeld an sie mit Wirkung vom genannten Tag eingestellt. Am 31. Januar 1966 stellte sie über das INPS bei der belgischen Anstalt für Kranken- und Invaliditätsversicherung (INAMI) einen Antrag auf Invaliditätsrente. Jedoch legte sie gegen die Entscheidung über die Einstellung der Krankengeldzahlungen an sie keinen Rechtsbehelf ein und machte auch nicht geltend, weiter arbeitsunfähig zu sein. Im November 1966 wurde ihre Arbeitsunfähigkeit in Italien anerkannt. Ihr Antrag auf Gewährung einer Invaliditätsrente wurde jedoch im Mai 1968 durch Entscheidung des INAMI, dem dieser Antrag übermittelt worden war, mit der Begründung abgelehnt, sie habe sich ohne vorherige Zustimmung seines Vertrauensarztes in Italien aufgehalten. Diese ablehnende Entscheidung wurde im Mai 1969 mit der weiteren Begründung aufrechterhalten, Frau Camera habe als belgische Versicherte ihren Anspruch auf Geldleistungen der Krankenversicherung nicht geltend gemacht oder nicht ausgeschöpft, wie das belgische Recht es vorschreibe.
Frau Cameras Klage gegen die Ablehnung ihres Antrags wurde mit der Begründung abgewiesen, dass ihr Antrag auf Invaliditätsrente nicht ordnungsgemäß gestellt sei, weil sie ihre neuerliche Arbeitsunfähigkeit nicht ihrer Versicherungseinrichtung in Belgien angezeigt habe; jedenfalls könne sie nach den einschlägigen belgischen Regelungen, in denen der Grundsatz der Territorialität der Gewährung von Krankenversicherungsleistungen niedergelegt sei, keine Zahlungen wegen Arbeitsunfähigkeit erhalten. Dagegen machte Frau Camera geltend, ihr beim INPS eingereichter Antrag auf Invaliditätsrente, der eine Krankmeldung enthalte, gelte als Erklärung gegenüber der zuständigen belgischen Stelle; außerdem sei der Grundsatz der Territorialität nicht mehr anwendbar, weil er nicht im Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht stehe.
Um zu vermeiden, dass Wanderarbeitnehmer allein wegen Verwaltungsformalitäten Ansprüche verlieren, hat laut Europäischem Gerichtshof die Stellung eines Antrags bei einer Einrichtung eines anderen als desjenigen Mitgliedstaats, der die Leistung zu erbringen hat, dieselben Wirkungen, wie wenn dieser Antrag unmittelbar bei der zuständigen Stelle des letztgenannten Staats eingereicht worden wäre. Wird der Antrag bei der Einrichtung eines anderen Mitgliedstaats gestellt, sind aber somit allein die rein formalen Voraussetzungen für die Anspruchsgewährung erfüllt. Nur wenn im Einzelfall auch alle materiellen Voraussetzungen vorliegen, hat der betreffende Wanderarbeitnehmer Anspruch auf die mit dem Antrag begehrte Leistung. Der Erwerb eines Anspruches auf Leistungen bei Invalidität kann jedoch nicht deshalb versagt werden, weil der Betroffene nicht im Hoheitsgebiet des Staats wohnt, in dem der verpflichtete Träger seinen Sitz hat.
Das Urteil:
1. Artikel 83 der Verordnung Nr. 4 des Rates vom 3. Dezember 1958 ist dahin gehend auszulegen, dass die Stellung eines Antrags bei einer Behörde, einem Träger oder einer sonstigen Einrichtung eines anderen als desjenigen Mitgliedstaats, der die Leistung zu erbringen hat, dieselben Wirkungen hat, wie wenn dieser Antrag unmittelbar bei der zuständigen Stelle des letztgenannten Staats eingereicht worden wäre.
2. Der Umstand, dass der Betroffene in dem Staat gewohnt hat, wo er seinen Antrag gestellt hat, und dass dies nach dem Recht des zuständigen Staats nicht ordnungsgemäß war, ändert nichts daran, dass die Stellung dieses Antrags dieselben Wirkungen hat, wie wenn der Antrag unmittelbar bei der zuständigen Stelle des Herkunftsstaats eingereicht worden wäre.
3. Artikel 10 Absatz 1 der Verordnung Nr. 3 des Rates vom 25. September 1958 ist dahin gehend auszulegen, dass die Versicherungseinrichtung des Herkunftsstaats den von dem nationalen Gericht angeführten Grundsatz der Territorialität nicht auf Leistungen bei Invalidität anwenden darf.
Originaltext des Urteils:
Urteil des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache C-92/81: Camera