Erhöhter Einkommensteuersatz für Gebietsfremde
Dass der Betroffene nicht dem nationalen Sozialversicherungssystem angeschlossen ist, kann kein Rechtfertigungsgrund sein
(C-107/94 vom 27.06.1996, Asscher)
Der Fall:
Der niederländische Staatsangehörige P. H. Asscher ist in den Niederlanden Geschäftsführer einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung, der P. H. Asscher Beheer BV, deren einziger Gesellschafter er ist. Herr Asscher übt auch in Belgien eine berufliche Tätigkeit aus; er leitet dort eine Gesellschaft belgischen Rechts namens Vereudia, für die er nur innerhalb Belgiens tätig wird. Im Mai 1986 verlegte Herr Asscher seinen Wohnort von den Niederlanden nach Belgien; an der Ausübung seiner Tätigkeiten in den Niederlanden oder in Belgien änderte sich dadurch nichts.
Nach dem belgisch-niederländischen Doppelbesteuerungsabkommen sind die von Herrn Asscher in den Niederlanden erzielten Einkünfte, nämlich das ihm von der niederländischen Gesellschaft gezahlte Arbeitsentgelt, ausschließlich in den Niederlanden zu versteuern.
Seine übrigen Einkünfte hat Herr Asscher in Belgien, seinem Wohnstaat, zu versteuern. Seine in den Niederlanden erzielten Einkünfte sind zwar von der Steuer befreit, doch bleibt Belgien berechtigt, die steuerfreien Einkünfte bei der Festsetzung des für ihn geltenden Steuersatzes zu berücksichtigen und damit die Progressionsbestimmung anzuwenden.
Im Bereich der sozialen Sicherheit befindet sich Herr Asscher gemäß der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 in folgender Situation:
Herr Asscher war bis zur Verlegung seines Wohnorts nach Belgien im Mai 1986 dem niederländischen System der allgemeinen Sozialversicherung angeschlossen. Seitdem ist er nicht mehr zur Entrichtung von Beiträgen zur niederländischen allgemeinen Sozialversicherung verpflichtet und unterliegt ausschließlich den belgischen Rechtsvorschriften über die soziale Sicherheit. Zur maßgeblichen Zeit war er in Belgien in der Sozialversicherung der Selbständigen pflichtversichert.
Nach seinem Wegzug aus den Niederlanden wurde auf das von Herrn Asscher in den Niederlanden bezogene Gehalt ein Lohnsteuersatz angewandt, der höher war als derjenige der gebietsansässigen Steuerpflichtigen. Dieser sogenannte „Ausländertarif" galt für gebietsfremde Steuerpflichtige, die weniger als 90 % ihres Welteinkommens in den Niederlanden erzielten und nicht zur Entrichtung von Beiträgen zur niederländischen Sozialversicherung verpflichtet waren.
Laut Europäischem Gerichtshof lassen die gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften über die Niederlassungsfreiheit es nicht zu, dass ein Mitgliedstaat auf einen Angehörigen eines Mitgliedstaats, der eine selbständige Erwerbstätigkeit im Gebiet dieses Staates und daneben eine andere selbständige Erwerbstätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat, in dem er auch wohnt, ausübt, wenn kein objektiver Unterschied in der Situation dieser Steuerpflichtigen und derjenigen der gebietsansässigen Steuerpflichtigen besteht, der geeignet wäre, eine solche Ungleichbehandlung zu rechtfertigen. Das ist unter anderem dann der Fall, wenn - wie bei Herrn Asscher - die Tatsache, dass jemand Gebietsfremder ist, ihn nicht der Anwendung der Progressionsbestimmung entgehen lässt.
Einem Mitgliedstaat ist es auch verwehrt, durch einen solchen erhöhten Steuersatz die Tatsache auszugleichen, dass der Steuerpflichtige aufgrund der europarechtlichen Koordinierungsregelungen nicht der Beitragspflicht in seinem nationalen Sozialversicherungssystem unterliegt.
Somit darf auf Herrn Asscher in den Niederlanden kein Einkommensteuersatz angewendet werden, der höher ist als derjenige, der für Gebietsansässige gilt.
Das Urteil:
1. Ein Angehöriger eines Mitgliedstaats, der eine selbständige Erwerbstätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat, in dem er auch wohnt, ausübt, kann sich gegenüber seinem Herkunftsstaat, in dessen Gebiet er eine andere selbständige Erwerbstätigkeit ausübt, auf die Bestimmungen des Artikels 52 EG-Vertrag1 berufen, wenn er sich aufgrund der Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat als seinem Herkunftsstaat diesem gegenüber in einer Lage befindet, die mit derjenigen anderer Personen vergleichbar ist, die sich gegenüber dem Aufnahmestaat auf die durch den Vertrag garantierten Rechte und Freiheiten berufen können.
2. Artikel 52 des Vertrages ist dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat verwehrt, auf einen Angehörigen eines Mitgliedstaats, der eine selbständige Erwerbstätigkeit im Gebiet dieses Staates und daneben eine andere selbständige Erwerbstätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat, in dem er auch wohnt, ausübt, einen Einkommensteuersatz anzuwenden, der höher ist als derjenige, der für Gebietsansässige gilt, die die gleiche Tätigkeit ausüben, wenn kein objektiver Unterschied in der Situation dieser Steuerpflichtigen und derjenigen der gebietsansässigen Steuerpflichtigen und der diesen gleichgestellten Personen besteht, der geeignet wäre, eine solche Ungleichbehandlung zu rechtfertigen.
3. Artikel 52 des Vertrages verwehrt es einem Mitgliedstaat, durch einen erhöhten Einkommensteuersatz der Tatsache Rechnung zu tragen, dass der Steuerpflichtige aufgrund der für die Bestimmung der anzuwendenden sozialrechtlichen Vorschriften geltenden Vorschriften der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, nicht der Beitragspflicht im nationalen Sozialversicherungssystem unterliegt. Der sich ebenfalls aus der Verordnung Nr. 1408/71 ergebende Umstand, dass der Steuerpflichtige dem System der sozialen Sicherheit seines Wohnstaats angeschlossen ist, ist insoweit unerheblich.
__________________
1 Jetzt Artikel 43 EG.