Arbeitnehmerentsendung im Bausektor

Arbeitnehmerschutz durch Bürgenhaftung
(C-60/03 vom 12.10.2004, Pereira Félix)

Der Fall:

Der portugiesische Staatsangehörige José Filipe Pereira Félix war vom 21 Februar 2000 bis zum 15. Mai 2000 als Maurer auf einer Baustelle in Deutschland für ein Bauunternehmen mit Sitz in Portugal tätig. Dieses Unternehmen führte auf dieser Baustelle für die Wolff & Müller GmbH & Co. KG Beton- und Stahlbetonarbeiten durch.
Mit einer im September 2000 beim Arbeitsgericht Berlin eingereichten Klage verlangte Herr Pereira Félix von seinem Arbeitgeber und von Wolff & Müller als Gesamtschuldner1 die Zahlung rückständiger Arbeitsvergütung in Höhe von 4019,23 DM. Er trug vor, dass Wolff & Müller nach deutschem Recht, nämlich dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz (AEntG), als Bürge für die offenen Lohnforderungen hafte.
Nach § 1a AEntG haftet ein Unternehmer, der einen anderen Unternehmer mit der Erbringung von Bauleistungen (...) beauftragt, für die Verpflichtung dieses Unternehmers, (..) zur Zahlung des Mindestentgelts an einen Arbeitnehmer (...) wie ein Bürge, der auf die Einrede der Vorausklage verzichtet hat2. Das Mindestentgelt in diesem Sinne umfasst nur das Nettoentgelt.
Wolff & Müller verteidigte sich gegen die Forderung von Herrn Pereira Félix insbesondere damit, dass ihre Haftung deshalb ausscheide, weil § 1a AEntG gegen die im EG-Vertrag gewährleistete Dienstleistungsfreiheit verstoße.

Laut Europäischem Gerichtshof ist die Anwendung nationaler Regelungen des Aufnahmemitgliedstaats für Dienstleistende geeignet, Dienstleistungen von in anderen Mitgliedstaaten ansässigen Personen oder Unternehmen zu unterbinden, zu behindern oder weniger attraktiv zu machen, sofern sie zusätzliche administrative und wirtschaftliche Kosten und Belastungen verursacht. Jedoch kann eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs gerechtfertigt sein, wenn sie auf zwingenden Gründe des Allgemeininteresses beruht, soweit dieses Interesse nicht bereits durch Vorschriften geschützt wird, denen der Dienstleistende in dem Mitgliedstaat unterliegt, in dem er ansässig, und sofern sie geeignet sind, die Verwirklichung des mit ihnen verfolgten Zieles zu gewährleisten, ohne über das hinauszugehen, was zur Erreichung dieses Zieles erforderlich ist. Zu den vom Gerichtshof anerkannten zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gehört auch der Schutz der Arbeitnehmer. Diesbezüglich ist vorliegend allein von Belang, ob § 1a EntG den betroffenen Arbeitnehmern einen tatsächlichen Vorteil verschafft, der deutlich zu ihrem sozialen Schutz beiträgt. Keine Rolle spielt insoweit, dass der Schutz des inländischen Arbeitsmarktes und nicht das Arbeitsentgelt des Arbeitnehmers das vorrangige Ziel gewesen ist, das der deutsche Gesetzgeber mit dem Erlass des § 1a AEntG verfolgt hat.
Wenn nun der Anspruch auf den Mindestlohn bei objektiver Betrachtung den Schutz der entsandten Arbeitnehmer gewährleistet, müssen die Verfahrensmodalitäten zur Durchsetzung dieses Anspruchs wie die Haftung des Bürgen auch als geeignet angesehen werden, diesen Schutz zu gewährleisten, da sie einen Vorteil für die entsandten Arbeitnehmer darstellt, weil diese neben dem ersten Schuldner des Arbeitslohns, ihrem Arbeitgeber, einen zweiten Schuldner bekommen, der gesamtschuldnerisch mit dem ersten verbunden und im Allgemeinen sogar zahlungsfähiger ist.
Soweit eines der Ziele des deutschen Gesetzgebers gewesen ist, einen unlauteren Wettbewerb seitens der Unternehmen zu verhindern, die ihren Arbeitnehmern einen Lohn zahlen, der unterhalb des Mindestlohns liegt, so kann ein solches Ziel als zwingendes Erfordernis, das eine Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit rechtfertigen kann, Berücksichtigung finden.
Ob die Bürgenhaftung über das hinausgeht, was zur Erreichung des mit ihr verfolgten Zieles erforderlich ist, obliegt der Überprüfung durch das mit dem Rechtsstreit befasste deutsche Gericht.
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1 Eine Gesamtschuld liegt vor, wenn mehrere eine Leistung in der Weise schulden, dass jeder die ganze Leistung zu bewirken verpflichtet, der Gläubiger aber die Leistung nur einmal zu fordern berechtigt ist. In dieser Situation kann sich der Gläubiger aussuchen, welchen (Gesamt)Schuldner er in Anspruch nimmt.
(Unter den Gesamtschuldnern besteht Ausgleichungspflicht.)
2 Der Verzicht auf die Einrede der Vorausklage hat zur Folge, dass der Gläubiger direkt den Bürgen in Anspruch nehmen kann, ohne zunächst eine Zwangsvollstreckung gegen den Hauptschuldner versuchen zu müssen. Bürge und Hauptschuldner haften somit als Gesamtschuldner.

Das Urteil:

Artikel 5 der Richtlinie 96/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 1996 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen steht bei Auslegung im Licht des Artikels 49 EG in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens einer nationalen Regelung nicht entgegen, nach der ein Bauunternehmer, der einen anderen Unternehmer mit der Erbringung von Bauleistungen beauftragt, für die Verpflichtungen dieses Unternehmers oder eines Nachunternehmers zur Zahlung des Mindestentgelts an einen Arbeitnehmer oder zur Zahlung von Beiträgen an eine gemeinsame Einrichtung der Tarifvertragsparteien wie ein Bürge haftet, der auf die Einrede der Vorausklage verzichtet hat, wenn das Mindestentgelt den Betrag erfasst, der nach Abzug der Steuern und der Beiträge zur Sozialversicherung und zur Arbeitsförderung oder entsprechender Aufwendungen zur sozialen Sicherung an den Arbeitnehmer auszuzahlen ist (Nettoentgelt), wenn der Entgeltschutz der Arbeitnehmer nicht vorrangiges oder nur nachrangiges Ziel des Gesetzes ist.

Originaltext des Urteils:

Urteil des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache C-60/03: Pereira Félix