Einstufung in eine höhere Vergütungsgruppe
Mutterschaftsurlaub muss bei der Berechnung der Bewährungszeit berücksichtigt werden
(C-284/02 vom 18.11.2004, Sass)
Der Fall:
Die deutsche Staatsangehörige Ursula Sass arbeitet seit dem 1. Juni 1982 als Produktionsleiterin an der Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf" in Potsdam. Ihr Arbeitsverhältnis unterfiel zum Zeitpunkt der Geburt ihres zweiten Kindes im Januar 1987 dem Arbeitsgesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik (AGB-DDR). Nach der Entbindung nahm Frau Sass gemäß dem AGB-DDR Wochenurlaub vom 27. Januar 1987 bis zum 16. Juni 1987, also 20 Wochen.
Nach der Wiederherstellung der Einheit Deutschlands ging das Arbeitsverhältnis von Frau Sass auf das Land Brandenburg über. Seitdem wird das Arbeitsverhältnis aufgrund einer entsprechenden einzelvertraglichen Vereinbarung der Parteien durch den Bundes-Angestelltentarifvertrag-Ost (BAT-O) geregelt. Bei diesem Übergang wurde die Beschäftigungszeit von Frau Sass seit Beginn ihrer Tätigkeit, d. h. seit dem 1. Juli 1982, berücksichtigt.
Die Vergütung von Frau Sass entsprach bis zum 7. Mai 1998 der Vergütungsgruppe II a des BAT-O. Am 8. Mai 1998 wurde sie höher eingruppiert, und zwar in die Vergütungsgruppe I b Fallgruppe 2. Bei der Berechnung der für den Bewährungsausstieg nach dem BAT-O erforderlichen 15 Jahre rechnete das Land Brandenburg auf diese Bewährungszeit die ersten acht Wochen des Wochenurlaubs an, den Frau Sass nach dem AGB-DDR genommen hatte, nicht jedoch die folgenden zwölf Wochen. Dies beruhte darauf, dass die einschlägige Vorschrift des BAT-O nur die Schutzfristen nach dem Mutterschutzgesetz (MuSchG) - acht Wochen - nennt, nicht aber den Wochenurlaub nach dem AGB-DDR.
Frau Sass erhob Klage und machte geltend, dass der gesamte Wochenurlaub, d.h. 20 Wochen, hätte berücksichtigt werden müssen. Die Auslegung des BAT-O durch das Land Brandenburg führe zu einer rechtswidrigen Diskriminierung der Frauen. Das Land sei zu verurteilen, an sie die Vergütungsdifferenz für die zwölf Wochen vom 12. Februar 1998, ab dem sie Anspruch auf die Erhöhung des Gehalts gehabt hätte, wenn der gesamte Wochenurlaub auf die Bewährungszeit angerechnet worden wäre, bis zum 7. Mai 1998 zu zahlen, d. h. 1 841,16 DM brutto nebst 4 % Zinsen auf den Nettobetrag seit dem 16. März 1999.
Laut Europäischem Gerichtshof ist Frau Sass, dadurch dass ihr Wochenurlaub nicht in voller Länge bei der Berechnung für den Bewährungsausstieg berücksichtigt wurde, gegenüber einem männlichen Kollegen, der seine Arbeit in der ehemaligen DDR am selben Tag wie sie aufgenommen hat, benachteiligt ist, da sie wegen der Inanspruchnahme dieses Urlaubs die jeweils höhere Vergütungsgruppe erst zwölf Wochen später als dieser erreichen wird.
verlangt das Gemeinschaftsrecht im Fall eines vom nationalen Recht zum Schutz der körperlichen Verfassung der Frau und der besonderen Beziehung zu ihrem Kind in der Zeit nach der Schwangerschaft und der Entbindung vorgesehenen Mutterschaftsurlaub, dass die Inanspruchnahme dieses gesetzlichen Schutzurlaubs zum einen weder das Arbeitsverhältnis der betreffenden Frau noch die Anwendung der damit verknüpften Rechte unterbricht und zum anderen nicht zu einer Benachteiligung der Frau führt. Dies gilt auch im Falle des von Frau Sass genommenen Wochenurlaubs nach dem BAT-O, der dem Mutterschaftsurlaub nach dem MuSchG aufgrund gleicher Zielsetzung, nämlich körperliche Erholung der Mutter und Kinderbetreuung durch die Mutter, gleichgestellt werden kann.
Somit hätte der Wochenurlaub von Frau Sass bei der Berechnung der Bewährungszeit in gleicher Zeit wie die Schutzfrist nach dem MuSchG berücksichtigt werden müssen, d.h. in voller Länge.
Das Urteil:
Die Richtlinie 76/207/EWG des Rates vom 9. Februar 1976 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen steht einer Regelung in einem Tarifvertrag wie dem Bundes-Angestelltentarifvertrag-Ost entgegen, wonach die Zeit, in der eine Arbeitnehmerin Wochenurlaub nach dem Recht der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik in Anspruch genommen hat, insoweit von der Anrechnung auf eine Bewährungszeit ausgeschlossen ist, als sie über die Schutzfrist nach dem Recht der Bundesrepublik Deutschland, auf das der Tarifvertrag abstellt, hinausgeht, sofern die Ziele und der Zweck beider Urlaubsregelungen den Zielen des Schutzes der Frau bei Schwangerschaft und Mutterschaft entsprechen, wie er in Artikel 2 Absatz 3 der genannten Richtlinie normiert ist. Die Prüfung, ob diese Bedingungen erfüllt sind, ist Sache des nationalen Gerichts.
Originaltext des Urteils:
Urteil des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache C-284/02: Sass