Anerkennung eines Diploms als Voraussetzung für den Zugang zu einer Arbeitnehmertätigkeit
Es hat eine Gesamtbeurteilung der akademischen und beruflichen Ausbildung zu erfolgen
(C - 313/01 vom 13.11.2003, Morgenbesser)
Der Fall:
Die in Italien wohnhafte, französische Staatsangehörige Christine Morgenbesser beantragte im Oktober 1997 beim Vorstand der Rechtsanwaltskammer Genua die Eintragung in das Berufsregister der Rechtsanwaltsanwärter, um die für eine Zulassung als Rechtsanwalt in Italien erforderliche Zeit der praktischen Ausbildung ordnungsgemäß absolvieren zu können. Obwohl sie in Frankreich einen rechtswissenschaftlichen Studienabschluss erworben hatte, und acht Monate als Juristin in einer Pariser sowie mehrere Jahre in einer italienischen Rechtsanwaltskanzlei tätig gewesen war, wurde ihr die Eintragung verwehrt. Zur Begründung berief man sich auf das italienische Gesetz über den Beruf des Rechtsanwalts, wonach die Eintragung in das Anwärterregister den Besitz eines von einer italienischen Universität verliehenen oder bestätigten Diploms der Rechtswissenschaft voraussetzt.
Laut Europäischem Gerichtshof ist die Inanspruchnahme der Arbeitnehmerfreizügigkeit beeinträchtigt, wenn nach nationalen Vorschriften die von dem Angehörigen eines anderen Mitgliedstaates außerhalb des Aufnahmestaates bereits erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten unberücksichtigt bleiben. Für die Entscheidung über die Eintragung in das Berufsregister der Rechtsanwaltsanwärter müsse der Studienabschluss des Antragstellers im Rahmen einer Gesamtbeurteilung der akademischen und beruflichen Ausbildung berücksichtigt werden.
Das Urteil:
Das Gemeinschaftsrecht verwehrt es den Behörden eines Mitgliedstaats, den Inhaber eines in einem anderen Mitgliedstaat erworbenen Diploms der Rechtswissenschaft nur deshalb nicht in das Register der Personen, die die für eine Zulassung als Rechtsanwalt erforderliche praktische Ausbildungszeit absolvieren, einzutragen, weil es sich nicht um ein von einer Universität des erstgenannten Staates verliehenes, bestätigtes oder als gleichwertig anerkanntes Diplom der Rechtswissenschaft handelt.
Die Pressemitteilung:
Urteil des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache C-313/01: Christine Morgenbesser / Consiglio dell' Ordine degli avvocati di Genova
Pressemitteilung des Europäischen Gerichtshofes Nr. 99/03 vom 13. November 2003
Die italienischen Behörden dürfen dem Inhaber einer in einem anderen Mitgliedstaat erworbenen „maîtrise en droit" die Eintragung in das Register der „practicanti" nicht verweigern.
Der Aufnahmemitgliedstaat muss die Diplome unter Berücksichtigung der Unterschiede zwischen den nationalen Rechtsordnungen vergleichen und vom Betroffenen eventuell den Nachweis verlangen, dass er die fehlenden Kenntnisse erworben hat
Frau Morgenbesser, eine französische Staatsangehörige mit Wohnsitz in Italien, ist Inhaberin eines im Jahre 1996 in Frankreich verliehenen Studienabschlusses (`maîtrise en droit), hat aber nicht den Befähigungsnachweis für den Beruf des Rechtsanwalts (CAPA) erworben. Nach einer kurzen Stage in einer Kanzlei französischer Rechtsanwälte arbeitete sie seit 1998 in einer Rechtsanwaltskanzlei in Genua. Sie beantragte die Eintragung in das Berufsregister der Rechtsanwaltsanwärter (`registro dei praticanti), die im Hinblick auf die Prüfung der Eignung für die Berufsausübung in Italien erforderlich ist, damit die Zeit der praktischen Ausbildung ordnungsgemäß absolviert werden kann.
Ihr Antrag wurde vom Vorstand der Rechtsanwaltskammer Genua sowie vom Consiglio Nazionale Forense abgelehnt, weil das italienische Gesetz über den Beruf des avvocato (Rechtsanwalt) den Besitz eines von einer italienischen Universität verliehenen oder bestätigten Diploms der Rechtswissenschaft vorsieht und sie nicht berechtigt war, in Frankreich den Beruf des Rechtsanwalts auszuüben.
Die Corte suprema di cassazione hat den Gerichtshof daher gefragt, ob es nach Gemeinschaftsrecht zulässig ist, dass die italienischen Behörden dem Inhaber eines in einem anderen Mitgliedstaat erworbenen Diploms der Rechtswissenschaft die Eintragung nur deshalb verweigern dürfen, weil dieses Diplom nicht in Italien ausgestellt wurde.
Der Gerichtshof weist zunächst darauf hin, dass weder die Richtlinie 98/5 über die ständige Ausübung des Rechtsanwaltsberufs noch die Richtlinie 89/48 über die Anerkennung der Hochschuldiplome, die eine mindestens dreijährige Ausbildung für reglementierte Berufe abschließen, auf die Situation von Frau Morgenbesser Anwendung findet, da die erstgenannte Richtlinie nur die voll qualifizierten Rechtsanwälte betrifft und die Tätigkeit eines „praticante" die zeitlich begrenzt ist und den praktischen Teil der für die Zulassung zum Beruf des Rechtsanwalts erforderlichen Ausbildung darstellt nicht als reglementierter Beruf im Sinne der Richtlinie 89/48, der sich vom Beruf des Rechtsanwalts trennen ließe, eingestuft werden kann.
Da die Zeit der praktischen Ausbildung im Hinblick auf die Aufnahme eines reglementierten Berufes die Ausübung von Tätigkeiten umfasst, die (von den Mandanten oder von der Rechtsanwaltskanzlei in Form von Honoraren bzw. eines Gehalts) vergütet werden, sind die im Vertrag verankerten Grundsätze über die Niederlassungsfreiheit oder über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer anwendbar.
Der Gerichtshof erinnert daher an die in seiner eigenen Rechtsprechung entwickelten Grundsätze: Wenn nach den nationalen Vorschriften die von dem Angehörigen eines anderen Mitgliedstaats außerhalb des Aufnahmestaats bereits erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten unberücksichtigt bleiben, sind die Ausübung des Niederlassungsrechts und die Inanspruchnahme der Freizügigkeit beeinträchtigt.
Das Diplom der Betroffenen muss im Rahmen einer Gesamtbeurteilung der akademischen und beruflichen Ausbildung berücksichtigt werden. Die italienische Behörde hat daher zu prüfen, ob und inwieweit die durch das Diplom bescheinigten Kenntnisse und die in einem anderen Mitgliedstaat erworbenen Fähigkeiten oder gewonnene Berufserfahrung zusammen mit der in Italien gewonnenen Erfahrung die für die Aufnahme der Tätigkeit eines „praticante" erforderlichen Voraussetzungen und sei es auch teilweise erfüllen können.
Im Falle des Anwaltsberufs muss ein Mitgliedstaat eine vergleichende Prüfung der Diplome unter Berücksichtigung der festgestellten Unterschiede zwischen den betroffenen nationalen Rechtsordnungen vornehmen. Ergibt der Vergleich, dass diese einander nur teilweise entsprechen, so kann der Aufnahmestaat von dem Betroffenen den Nachweis verlangen, dass er die fehlenden Kenntnisse erworben hat. Die zuständigen Behörden des Aufnahmestaats müssen daher beurteilen, ob die in diesem Staat erworbenen Kenntnisse und gewonnene Erfahrung für den Nachweis des Erwerbs der fehlenden Kenntnisse ausreichen.
Originaltext des Urteils:
Urteil des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache C-313/01:
Christine Morgenbesser / Consiglio dell' Ordine degli avvocati di Genova