Zugang zu den Royal Marines bleibt Männern vorbehalten
Wegen der speziellen Einsatzbedingungen dieser Kampfeinheit ist der Ausschluss von Frauen erlaubt
(C-273/97 vom 26.10.1999, Sirdar)
Der Fall:
Frau Angela Maria Sirdar war seit 1983 Angehörige des britischen Heeres und diente seit 1990 als Köchin bei einem Kommandoregiment der Königlichen Artillerie, als ihr im Februar 1994 mitgeteilt wurde, dass sie mit Wirkung vom Februar 1995 aus wirtschaftlichen Gründen (zur Senkung der Verteidigungskosten) entlassen werde.
Im Juli 1994 wurde Frau Sirdar schriftlich angeboten, zu den Royal Marines, bei denen ein Mangel an Köchen herrschte, zu wechseln. Hierbei wurde darauf hingewiesen, dass sie sich für ihre Versetzung zunächst einem Vorauswahlausschuss stellen und anschließend einer Ausbildung für Kommandounternehmen unterziehen müsse. Als sich die zuständigen Stellen der Royal Marines jedoch bewusst wurden, dass sie das Angebot versehentlich einer Frau unterbreitet hatten, teilten sie Frau Sirdar mit, dass sie für eine Versetzung nicht in Betracht komme. Die Anwesenheit von Frauen sei mit dem Erfordernis der "allseitigen Verwendbarkeit" unvereinbar, d.h. mit der Notwendigkeit, dass jeder Marineinfanterist unabhängig von seiner Spezialisierung fähig ist, in einer Kommandoeinheit zu kämpfen.
Laut Europäischem Gerichtshof sieht das Gemeinschaftsrecht Ausnahmen von der Anwendung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu einer Beschäftigung vor, wenn für die Ausübung der betreffenden Tätigkeit unter Berücksichtigung ihrer Art das Geschlecht eine unabdingbare Voraussetzung darstellt.
Das Urteil:
1. Entscheidungen der Mitgliedstaaten, die den Zugang zur Beschäftigung, die Berufsbildung und die Arbeitsbedingungen in den Streitkräften betreffen und zur Gewährleistung der Kampfkraft erlassen worden sind, sind nicht allgemein vom Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts ausgenommen.
2. Der Ausschluss von Frauen vom Dienst in speziellen Kampfeinheiten wie den Royal Marines kann aufgrund der Art und der Bedingungen der Ausübung der betreffenden Tätigkeiten nach Artikel 2 Absatz 2 der Richtlinie 76/207/EWG des Rates vom 9. Februar 1976 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in bezug auf die Arbeitsbedingungen gerechtfertigt sein.
Die Pressemitteilung:
Urteil des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache C-273/97: Angela Maria Sirdar / The Army Board, Secretary of State for Defence
Pressemitteilung des Europäischen Gerichtshofes Nr. 83/99 vom 26.10.1999
Nationale Entscheidungen über Organisation und Führung der Streitkräfte müssen allgemein den Grundsatz der Gleichbehandlung von Männern und Frauen beachten.
Der Gerichtshof erkennt allerdings den Royal Marines, einer speziellen Kampfeinheit, die Tätigkeiten ausübt, für die das Geschlecht eine unabdingbare Voraussetzung darstellt, das Recht zu, Frauen vom Zugang zu dieser Einheit auszuschließen.
Frau Angela Sirdar war seit 1983 als Köchin bei der britischen Armee beschäftigt und seit 1990 der Königlichen Artillerie zugewiesen.
Im Februar 1994 wurde Frau Sirdar entlassen, wobei ihre Entlassung mit der Notwendigkeit begründet wurde, die Verteidigungskosten zu senken. Frau Sirdar beantragte ihre Versetzung mit dem Ziel, sie als Köchin bei den Royal Marines einzustellen. Ihr Antrag wurde abgelehnt, weil diese Einheit keine Frauen in ihren Reihen zulässt.
Die Truppe der Royal Marines ist eine Einheit, deren grundlegendes Merkmal in der Fähigkeit zu schnellem Handeln - als Sturminfanterie - in sehr unterschiedlichen Formen militärischer Aktionen und des Nahkampfes mit dem Feind besteht.
Die Organisation dieser Truppe beruht auf dem Grundsatz der allseitigen Verwendbarkeit, wonach jeder einzelne in der Lage sein muss, jederzeit in seinem Rang und auf seinem Ausbildungsniveau in einer Kampfeinheit Dienst zu tun. Die Beschäftigung von Frauen bei den Royal Marines läßt nach Auffassung der zuständigen Stellen dieser Einheiten eine Gewährleistung dieser allseitigen Verwendbarkeit nicht zu.
Frau Sirdar sah sich aufgrund des Geschlechts diskriminiert und strengte ein Verfahren vor dem Industrial Tribunal Bury St Edmunds an. Dieses Gericht hat sich mit Fragen nach der Anwendung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu einer Beschäftigung bei den Streitkräften oder in einer ihrer Einheiten an den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften gewandt.
Der Gerichtshof führt zunächst aus, dass es zwar Sache der Mitgliedstaaten sei, die Entscheidungen über die Organisation ihrer Streitkräfte zu erlassen, dass diese Entscheidungen (von ganz bestimmten Ausnahmefällen abgesehen) jedoch nicht vom Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts ausgenommen seien. So hätten solche Entscheidungen, die u.a. den Zugang zu einer Beschäftigung bei den Streitkräften beträfen, allgemein den Grundsatz der Gleichbehandlung von Männern und Frauen zu beachten.
Der Gerichtshof stellt allerdings fest, dass sich die Organisation der Royal Marines grundlegend von der der übrigen Einheiten der britischen Streitkräfte unterscheide. In dieser Einheit hätten die Köche nämlich tatsächlich auch als Angehörige eines Kampftrupps zu dienen, ohne dass eine Ausnahme von dieser Regel möglich sei.
Der Gerichtshof führt aus, dass das Gemeinschaftsrecht eng begrenzte Ausnahmen von der Anwendung des Grundsatzes der Gleichbehandlung vorsehe (die hinsichtlich des verfolgten Zieles angemessen und erforderlich sein müssten), wenn für die Ausübung der betreffenden Tätigkeit unter Berücksichtigung ihrer Art das Geschlecht eine unabdingbare Voraussetzung darstelle, und weist darauf hin, dass die nationalen Stellen über einen bestimmten Ermessensspielraum verfügten, wenn sie die für die öffentliche Sicherheit eines Mitgliedstaats erforderlichen Maßnahmen treffen.
Unter den im vorliegenden Fall gegebenen Umständen durften die nationalen Stellen nach Auffassung des Gerichtshofes von ihrem Ermessen Gebrauch machen, um den Zugang zu den Royal Marines wegen der speziellen Einsatzbedingungen dieser Kampfeinheit ausschließlich Männern vorzubehalten.
Originaltext des Urteils:
Urteil des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache C-273/97 Sirdar