Eröffnung einer Rechtsanwaltskanzlei in einem anderen Mitgliedstaat als dem Zulassungsstaat
Nationale Zulassungsbedingungen dürfen nicht diskriminierend sein
(C-55/94 vom 30.11.1995, Gebhard)
Der Fall:
Der deutsche Staatsangehörige Reinhard Gebhard hatte 1977 die Berechtigung zur Ausübung des Berufes eines „Rechtsanwalts" in Deutschland erworben. Er war in Stuttgart als Rechtsanwalt zugelassen, wo er „freier Mitarbeiter" in einer Kanzlei war.
Nachdem er von 1978 bis 1989 für verschiedenen Rechtsanwaltskanzleien in Italien gearbeitet hatte, eröffnete Herr Gebhard eine eigene Kanzlei in Mailand. Nach italienischem Recht war es den im Herkunftsmitgliedstaat als Rechtsanwalt zugelassenen Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten jedoch nicht gestattet, im italienischen Hoheitsgebiet eine Kanzlei oder einen Haupt- oder Nebensitz einzurichten.
Laut Europäischem Gerichtshof gebietet das Recht der freien Niederlassung, dass Gemeinschaftsangehörige die Möglichkeit haben müssen, in stabiler und kontinuierlicher Weise am Wirtschaftsleben eines anderen Mitgliedstaats teilzunehmen und daraus Nutzen zu ziehen, wodurch die wirtschaftliche und soziale Verflechtung innerhalb der Gemeinschaft im Bereich der selbständigen Tätigkeit gefördert werden soll. Grundsätzlich gelten die Bedingungen für die Aufnahme einer spezifischen Tätigkeit, die den Inländern abgefordert werden, auch für Angehörige anderer Mitgliedstaaten. Die Bedingungen dürfen jedoch nicht diskriminierend gehandhabt werden und sollen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung der mit ihnen verfolgten legitimen Ziele erforderlich ist.
Das Urteil:
1. Der in Artikel 60 Absatz 3 EG-Vertrag1 genannte vorübergehende Charakter der Dienstleistung ist unter Berücksichtigung ihrer Dauer, ihrer Häufigkeit, ihrer regelmäßigen Wiederkehr und ihrer Kontinuität zu beurteilen.
2. Der Dienstleistungserbringer im Sinne des Vertrages kann sich im Aufnahmemitgliedstaat mit der für die Erbringung seiner Leistung erforderlichen Infrastruktur ausstatten.
3. Ein Angehöriger eines Mitgliedstaats, der in stabiler und kontinuierlicher Weise eine Berufstätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat ausübt, in dem er sich von einem Berufsdomizil aus u. a. an die Angehörigen dieses Staates wendet, fällt unter die Vorschriften des Kapitels über das Niederlassungsrecht und nicht unter die des Kapitels über die Dienstleistungen.
4. Die Möglichkeit für einen Angehörigen eines Mitgliedstaats, sein Niederlassungsrecht auszuüben, und die Bedingungen dieser Ausübung sind unter Berücksichtigung der Tätigkeiten zu beurteilen, die er im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats ausüben will.
5. Unterliegt die Aufnahme einer spezifischen Tätigkeit im Aufnahmestaat keiner Regelung, so hat der Angehörige jedes anderen Mitgliedstaats das Recht, sich im Hoheitsgebiet des erstgenannten Staates niederzulassen und dort diese Tätigkeit auszuüben. Unterliegt die Aufnahme oder Ausübung dieser Tätigkeit im Aufnahmemitgliedstaat jedoch bestimmten Bedingungen, so muss der Angehörige eines anderen Mitgliedstaats, der diese Tätigkeit ausüben will, diese Bedingungen grundsätzlich erfüllen.
6. Nationale Maßnahmen, die die Ausübung der durch den Vertrag garantierten grundlegenden Freiheiten behindern oder weniger attraktiv machen können, müssen vier Voraussetzungen erfüllen: Sie müssen in nichtdiskriminierender Weise angewandt werden, sie müssen aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein, sie müssen geeignet sein, die Verwirklichung des mit ihnen verfolgten Zieles zu gewährleisten, und sie dürfen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Zieles erforderlich ist.
7. Die Mitgliedstaaten müssen die Gleichwertigkeit der Diplome berücksichtigen und gegebenenfalls eine vergleichende Prüfung der in ihren nationalen Vorschriften geforderten Kenntnisse und Qualifikationen und derjenigen des Betroffenen vornehmen.
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1 Jetzt Artikel 50 EG.
Originaltext des Urteils:
Urteil des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache C-55/94: Gebhard