Anwendbarkeit des Rechts der freien Niederlassung auf den Rechtsanwaltsberuf

Tätigkeiten wie Rechtsberatung, Rechtsbeistand, gerichtliche Vertretung und Verteidigung fallen in den Schutzbereich
(C-2/74 vom 21.06.1974, Reyners)

Der Fall:

Der niederländische Staatsangehörige Jean Reyners war Inhaber eines staatlichen Diploms, das in Belgien den Zugang zur Rechtsanwaltschaft eröffnete. Trotz dessen war ihm in Belgien aufgrund des nationalen Rechts die Zulassung zur Anwaltschaft wegen seiner Staatsangehörigkeit versagt worden. Herr Reyners fühlte sich diskriminiert und berief sich auf das Recht der freien Niederlassung. Die nationale Rechtsanwaltskammer von Belgien verwies darauf, dass Tätigkeiten, die dauernd oder zeitweise mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden seien, von den gemeinschaftlichen Vertragsvorschriften auf dem Gebiet des Niederlassungsrechts ausgenommen wären. Weil er organisch in die Rechtspflege eingebettet sei, gelte dieser Vorbehalt für den Anwaltsberuf als Ganzes. Herr Reyners vertrat demgegenüber die Auffassung, dass allenfalls einige Tätigkeiten eines Rechtsanwalts mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden seien, und nur diese unterfielen daher der Ausnahme vom Grundsatz der Niederlassungsfreiheit.

Laut Europäischem Gerichtshof ist eine Ausweitung der vertraglich gestatteten Ausnahme auf einen Beruf als Ganzen nicht zu billigen, wenn im Rahmen eines freien Berufes die Tätigkeiten, die gegebenenfalls mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden sind, einen abtrennbaren Teil der betreffenden Berufstätigkeit insgesamt darstellen. Für den Beruf als Rechtsanwalt gilt, dass berufliche Dienstleistungen, die einen Verkehr mit den Gerichten mit sich bringen, als solche keine Teilnahme an der Ausübung öffentlicher Gewalt darstellen, selbst wenn sie regelmäßig erbracht werden, organisch in das Gerichtsverfahren eingebettet sind und auf eine obligatorische Mitarbeit bei der Erfüllung der Aufgaben der Gerichte hinauslaufen. Insbesondere können die typischen Tätigkeiten des Anwaltsberufes wie Rechtsberatung und Rechtsbeistand nicht als eine derartige Teilnahme angesehen werden, ebenso wenig wie die Vertretung und die Verteidigung des Auftraggebers vor Gericht, selbst wenn die Einschaltung oder die Betreuung durch Gesetz zwingend vorgeschrieben oder ausschließlich einem Rechtsanwalt vorbehalten ist. Denn die Wahrnehmung dieser Aufgaben lässt die richterliche Beurteilung und die freie Ausübung der Rechtsprechungsbefugnis unberührt.

Das Urteil:

1. Artikel 52 des EWG-Vertrags1 ist seit Ablauf der Übergangszeit eine unmittelbar geltende Bestimmung, auch wenn für bestimmte Bereiche die in den Artikeln 54 Absatz 2 2 und 57 Absatz 3 des Vertrages vorgesehenen Richtlinien nicht ergangen sein sollten.

2. Die in Artikel 55 Absatz 1 des EWG-Vertrags4 vorgesehene Ausnahme vom Grundsatz der Niederlassungsfreiheit ist auf diejenigen in Artikel 52 bezeichneten Tätigkeiten zu beschränken, die für sich genommen eine unmittelbare und spezifische Teilnahme an der Ausübung öffentlicher Gewalt mit einschließen; hierzu sind im Rahmen eines freien Berufes wie dem des Rechtsanwaltes nicht Tätigkeiten wie die Rechtsberatung und der Rechtsbeistand zu rechnen, desgleichen nicht die Vertretung und die Verteidigung des Auftraggebers vor Gericht, selbst wenn das Gesetz die Wahrnehmung dieser Aufgaben durch den Rechtsanwalt zwingend oder ausschließlich vorschreibt.
______________________________
1 Jetzt Artikel 43 EG.
2 Jetzt Artikel 44 Absatz 2 EG.
3 Jetzt Artikel 47 Absatz 1 EG.
4 Jetzt Artikel 45 EG.

Originaltext des Urteils:

Urteil des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache C-2/74: Reyners