Die Regelungen der Assoziation EWG-Türkei sind entsprechend den Freizügigkeitsregelungen auszulegen
Zu den “Familienangehörigen” eines Arbeitnehmers zählen nicht nur dessen Blutsverwandte
(C-275/02 vom 30.09.2004, Ayaz)
Der Fall:
Der am 24. September 1979 geborene, ledige türkische Staatsangehörige Enging Ayaz zog 1991 zusammen mit seiner Mutter zu seinem Stiefvater nach Deutschland. Der Stiefvater ist ein türkischer Staatsangehöriger, der seit den 80er Jahren als Arbeitnehmer dem regulären deutschen Arbeitsmarkt angehört und sich erlaubt in Deutschland aufhält. Die Mutter von Herrn Ayaz war zu keinem Zeitpunkt berechtigt, dort zu arbeiten. Herrn Ayaz wurden in Deutschland bis einschließlich Oktober 1999 jeweils befristete Aufenthaltserlaubnisse erteilt. Weil Herr Ayaz von den deutschen Gerichten mehrfach wegen verschiedener Straftaten verurteilt worden war, wurde seine Aufenthaltserlaubnis jedoch nicht darüber hinaus verlängert und er wurde unter Androhung seiner Ausweisung in die Türkei bei Nichtbefolgung aufgefordert, Deutschland zu verlassen. Dagegen erhob Herr Ayaz Klage beim Verwaltungsgericht Stuttgart. Dieses war der Auffassung, dass geprüft werden müsse, ob sich Herr Ayaz auf den Ausweisungsschutz nach Artikel 14 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 über die Entwicklung der Assoziation zwischen der EWG und der Türkei berufen könne. Demgemäß kann ein türkischer Staatsangehöriger, der ein unmittelbar durch den Beschluss Nr. 1/80 gewährtes Recht innehat, nicht aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung zum Zwecke der Abschreckung anderer Ausländer ausgewiesen werden, wenn nicht das persönliche Verhalten des Betroffenen konkreten Anlass zu der Annahme gibt, dass er weitere schwere Straftaten begehen wird, die die öffentliche Ordnung im Aufnahmemitgliedstaat stören könnten.
Es sei also zu klären - so das Verwaltungsgericht -, ob Herrn Ayaz unmittelbar durch den Beschluss Nr. 1/80 ein Recht zukomme.
Artikel 7 Satz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 bestimmt:
" Die Familienangehörigen eines dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehörenden türkischen Arbeitnehmers, die die Genehmigung erhalten haben, zu ihm zu ziehen, (...) haben freien Zugang zu jeder von ihnen gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis, wenn sie dort seit mindestens fünf Jahren ihren ordnungsgemäßen Wohnsitz haben."
Das Verwaltungsgericht fragte den Europäischen Gerichtshof, ob der unter 21 Jahren alte Stiefsohn eines türkischen Arbeitnehmers, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehöre, Familienangehöriger im Sinne des Artikels 7 Satz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 sei.
Laut Europäischem Gerichtshof folgt aus dem Zweck des Beschlusses Nr. 1/80, der auf die schrittweise Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer in Anlehnung an die Artikel 39 - 41 EG gerichtet ist, dass bei der Bestimmung des Begriffes "Familienangehöriger" in Artikel 7 Satz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 auf die dem gleichen Begriff im Bereich der Freizügigkeit der Arbeitnehmer aus den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft gegebene Auslegung abzustellen ist. Zu den "Familienangehörigen" in diesem Sinne gehören die Verwandten in gerade absteigender Linie (Kinder) sowohl des Arbeitnehmers selber als auch des Ehegatten des Arbeitnehmers, die das 21. Lebensjahr nicht vollendet haben oder denen von diesen Unterhalt gewährt wird.
Das bedeutet, dass sich Herr Ayaz - wenn er ordnungsgemäß die Genehmigung erhalten hat, zu seinem Stiefvater nach Deutschland zu ziehen (siehe oben § 7 Satz 1, 2. Und 3. Halbsatz des Beschlusses Nr. 1/80) - auf den Ausweisungsschutz nach Artikel 14 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 berufen kann.
Das Urteil:
Artikel 7 Satz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des durch das Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei eingerichteten Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation ist dahin auszulegen, dass der noch nicht 21 Jahre alte oder Unterhalt beziehende Stiefsohn eines türkischen Arbeitnehmers, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehört, Familienangehöriger im Sinne dieser Vorschrift ist und die Rechte nach diesem Beschluss besitzt, wenn er ordnungsgemäß die Genehmigung erhalten hat, zu diesem Arbeitnehmer in den Aufnahmemitgliedstaat zu ziehen.
Originaltext des Urteils:
Urteil des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache C-275/02: Ayaz