Aufenthaltsrechte der Familienangehörigen eines Wanderarbeitnehmers
Kinder haben Anspruch auf Fortsetzung ihrer Ausbildung im Aufnahmemitgliedstaat
(C-413/99 vom 17.09.2002, Baumbast)
Der Fall:
Rechtssache Baumbast:
Zu der Familie Baumbast gehören die kolumbianische Staatsangehörige Maria Belen Baumbast, ihr Ehegatte, der deutsche Staatsangehörige Wolfgang Baumbast, die nichteheliche Tochter und kolumbianische Staatsangehörige Maria Fernanda Sarmiento sowie die jüngere Tochter, Idanella Baumbast, die die deutsche und die kolumbianische Staatsangehörigkeit besitzt. Im Juni 1990 wurde den Mitgliedern der Familie Baumbast eine fünfjährige Aufenthaltserlaubnis für das Vereinigte Königreich erteilt. Von 1990 bis 1993 war Herr Baumbast dort zunächst als Arbeitnehmer und dann als Unternehmer erwerbstätig. Nachdem sein Unternehmen in Konkurs gefallen war und er im Vereinigten Königreich keine hinreichend gut dotierte Arbeitsstelle finden konnte, arbeitete er seit 1993 für deutsche Unternehmen in China und Lesotho. Herr Baumbast bemühte sich seither immer wieder erfolglos um Arbeit im Vereinigten Königreich. Frau Baumbast und die Töchter wohnten weiterhin in dem familieneigenen Haus im Vereinigten Königreich, wo die Töchter die Schule besuchten. Die Familie nahm keine Sozialleistungen in Anspruch und begab sich zur ärztlichen Betreuung erforderlichenfalls nach Deutschland, da sie dort in vollem Umfang krankenversichert war. Im Mai 1995 beantragte Frau Baumbast für sich und ihre Familie eine unbefristete britische Aufenthaltserlaubnis. Im Januar 1996 lehnte der Secretary of State eine Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis für die Familie Baumbast ab.
Rechtssache R:
R, Staatsangehörige der Vereinigten Staaten von Amerika, hat aus ihrer ersten Ehe mit einem französischen Staatsangehörigen zwei Kinder mit französischer und amerikanischer Staatsangehörigkeit. Als Ehefrau eines Gemeinschaftsangehörigen, dem die Rechte aus dem EG-Vertrag zustanden und der eine bis Oktober 1995 befristete Aufenthaltserlaubnis im Vereinigten Königreich besaß, siedelte sie 1990 in das Vereinigte Königreich über. Im September 1992 wurden R und ihr erster Ehemann geschieden. Trotzdem wohnte R weiterhin im Vereinigten Königreich. Nach der Scheidungsvereinbarung sollten die Kinder für mindestens fünf Jahre ab der Scheidung bei ihrer Mutter in England oder Wales bleiben. Nach der Scheidung hatten die Kinder weiterhin regelmäßig Umgang mit ihrem Vater, der weiterhin im Vereinigten Königreich wohnt und arbeitet und sich sowohl in persönlicher als auch in finanzieller Hinsicht mit der Mutter die Verantwortung für ihre Erziehung teilt. Im Oktober 1995 beantragte R für sich und ihre beiden Töchter nach nationalem Recht eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis im Vereinigten Königreich. Im Dezember 1996 wurde diese den Kindern als Familienangehörigen eines Wanderarbeitnehmers gewährt, während der Antrag von R abgelehnt wurde.
Laut Europäischem Gerichtshof
sind die Kinder in den vorliegenden Fällen zum Aufenthalt im Vereinigten Königreich berechtigt, um dort weiterhin am allgemeinen Unterricht teilzunehmen. Zudem ist dem Elternteil, der die Personensorge für die Kinder tatsächlich wahrnimmt, ungeachtet seiner Staatsangehörigkeit der Aufenthalt bei den Kindern zu erlauben, um diesen die Wahrnehmung ihres genannten Rechts zu erleichtern. Herr Baumbast hat ein Aufenthaltsrecht aufgrund seiner Eigenschaft als Unionsbürger.
Das Urteil:
1. Die Kinder eines Bürgers der Europäischen Union, die in einem Mitgliedstaat seit einem Zeitpunkt wohnen, zu dem dieser Bürger dort ein Aufenthaltsrecht als Wanderarbeitnehmer hatte, sind zum Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat berechtigt, um dort gemäß Artikel 12 der Verordnung Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft weiterhin am allgemeinen Unterricht teilzunehmen. Dass die Eltern dieser Kinder inzwischen geschieden sind, dass nur einer von ihnen Bürger der Europäischen Union und nicht mehr Wanderarbeitnehmer im Aufnahmemitgliedstaat ist und dass die Kinder selbst nicht Bürger der Europäischen Union sind, ist dabei ohne Belang.
2. Artikel 12 der Verordnung Nr. 1612/68 ist in einem Fall, in dem Kinder ein Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat haben, um dort, wie in diesem Artikel vorgesehen, am allgemeinen Unterricht teilzunehmen, dahin auszulegen, dass er dem Elternteil, der die Personensorge für die Kinder tatsächlich wahrnimmt, ungeachtet seiner Staatsangehörigkeit den Aufenthalt bei den Kindern erlaubt, um ihnen die Wahrnehmung ihres genannten Rechts zu erleichtern, selbst wenn die Eltern inzwischen geschieden sind oder der Elternteil, der Bürger der Europäischen Union ist, nicht mehr Wanderarbeitnehmer im Aufnahmemitgliedstaat ist.
3. Ein Bürger der Europäischen Union, der im Aufnahmemitgliedstaat kein Aufenthaltsrecht als Wanderarbeitnehmer mehr besitzt, kann dort als Unionsbürger ein Aufenthaltsrecht genießen, das sich aus der unmittelbaren Anwendung von Artikel 18 Absatz 1 EG ergibt. Die Wahrnehmung dieses Rechts kann den in dieser Bestimmung genannten Beschränkungen und Bedingungen unterworfen werden, jedoch haben die zuständigen Behörden und gegebenenfalls die nationalen Gerichte dafür Sorge zu tragen, dass bei der Anwendung dieser Beschränkungen und Bedingungen die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts und insbesondere der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt bleiben.
Originaltext des Urteils:
Urteil des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache C-413/99: Baumbast