Aufenthaltsrechte von Kindern mit Unionsbürgereigenschaft und deren drittstaatsangehörigen Müttern
Solange keine Sozialhilfe in Anspruch genommen werden muss, ist der Aufenthalt in jedem Mitgliedstaat erlaubt
(C-200/02 vom 19.10.2004, Zhu und Chen)
Der Fall:
Die chinesische Staatsangehörige Man Lavette Chen, die für ein chinesisches Unternehmen mit Sitz in China arbeitete, hatte sich im Juli 2000 nach Nordirland begeben, um dort ihre Tochter zur Welt zu bringen. Wie von Frau Chen beabsichtigt, wurde der Tochter nach der Geburt gemäß dem irischen Recht die irische Staatsangehörigkeit verliehen. Einen Anspruch auf Erwerb der chinesischen oder britischen Staatsangehörigkeit hatte Frau Chens Tochter jedoch nicht.
Nach ihrer Niederkunft lebte Frau Chen mit ihrer kleinen Tochter im Vereinigten Königreich. Obwohl beide wegen der Berufstätigkeit von Frau Chen wirtschaftlich unabhängig waren, keine öffentlichen Gelder in Anspruch nahmen und über eine Krankenversicherung verfügten, wurden ihre Anträge auf Erteilung einer dauerhaften Aufenthaltserlaubnis im Vereinigten Königreich abgelehnt.
Laut Europäischem Gerichtshof steht der Tochter aufgrund ihrer Unionsbürgerschaft in Verbindung mit ihrer abgesicherten gesundheitlichen und finanziellen Situation ein Recht auf Aufenthalt im Vereinigten Königreich zu. Dass Frau Chen die irische Staatsbürgerschaft ihrer Tochter mit der Verlegung des Geburtsorts nach Irland absichtlich herbeigeführt hat, ist insoweit unerheblich.
Um dem Aufenthaltsrecht der Tochter nicht jede praktische Wirksamkeit zu nehmen, muss auch der Person, die für sie sorgt - nämlich Frau Chen - erlaubt werden, sich im Vereinigten Königreich aufzuhalten.
Das Urteil:
Artikel 18 EG und die Richtlinie 90/364/EWG des Rates vom 28. Juni 1990 über das Aufenthaltsrecht verleihen unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens dem minderjährigen Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats im Kleinkindalter, der angemessen krankenversichert ist und dem Unterhalt von einem Elternteil gewährt wird, der Staatsangehöriger eines Drittstaats ist und dessen Mittel ausreichen, um eine Belastung der öffentlichen Finanzen des Aufnahmemitgliedstaats durch den Minderjährigen zu verhindern, das Recht, sich für unbestimmte Zeit im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufzuhalten. In einem solchen Fall erlauben dieselben Vorschriften es dem Elternteil, der für diesen Staatsangehörigen tatsächlich sorgt, sich mit ihm im Aufnahmemitgliedstaat aufzuhalten.
Die Pressemitteilung:
Urteil des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache C-200/02:
Kunquian Catherine Zhu und Man Lavette Chen / Secretary of State for the Home Department
Pressemitteilung des Europäischen Gerichtshofes Nr. 84/04 vom 19. Oktober 2004
Ein Mädchen im Kleinkindalter, das die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt, hat im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats ein Aufenthaltsrecht, sofern es krankenversichert ist und über ausreichende Existenzmittel verfügt.
Die Ablehnung des Antrags der Mutter - die Staatsangehörige eines Drittstaats ist - auf Erteilung einer dauerhaften Aufenthaltserlaubnis würde dem Aufenthaltsrecht des Kindes die praktische Wirksamkeit nehmen.
Frau Chen, die die chinesische Staatsangehörigkeit besitzt und bereits Mutter eines Kindes chinesischer Staatsangehörigkeit war, begab sich nach Belfast in Nordirland (Vereinigtes Königreich), um dort ihr zweites Kind zur Welt zu bringen. Ihrer einige Monate später geborene Tochter Catherine wurde die irische Staatsangehörigkeit verliehen, deren Erwerb die in Irland geltende Regelung jedem gestattet, der auf der Insel Irland geboren wird. Dagegen hat Catherine weder Anspruch auf Erwerb der britischen noch der chinesischen Staatsangehörigkeit.
Frau Chen und ihre Tochter leben zurzeit in Cardiff, Wales (Vereinigtes Königreich), wo Catherine privat bezahlte medizinische Dienstleistungen und entgeltliche Dienstleistungen im Bereich der Kinderbetreuung erhält. Frau Chen und Catherine nehmen im Vereinigten Königreich keine öffentlichen Gelder in Anspruch und sind beide krankenversichert.
Nach Ablehnung ihrer Anträge auf Erteilung einer dauerhaften Aufenthaltserlaubnis erhoben Frau Chen und ihre Tochter Klage. Die Immigration Apppellate Authority hat dem Gerichtshof die Frage vorgelegt, ob das Gemeinschaftsrecht Catherine und ihrer Mutter ein Recht auf Aufenthalt im Vereinigten Königreich verleiht.
Zum Aufenthaltsrecht von Catherine
Der Gerichtshof weist zunächst darauf hin, dass das Recht der Bürger der Europäischen Union auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats durch den EG-Vertrag jedem Unionsbürger zuerkannt wird, allerdings vorbehaltlich der in diesem Vertrag und in seinen Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen.
Die Mitgliedstaaten können danach von den Angehörigen eines Mitgliedstaats, die in ihrem Hoheitsgebiet das Aufenthaltsrecht genießen wollen, verlangen, dass sie für sich und ihre Familienangehörigen über eine Krankenversicherung, die im Aufnahmemitgliedstaat alle Risiken abdeckt, sowie über ausreichende Existenzmittel verfügen, durch die sichergestellt ist, dass sie während ihres Aufenthalts nicht die Sozialhilfe des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen.
Catherine verfügt sowohl über eine Krakenversicherung als auch über ausreichende Existenzmittel, die sie von ihrer Mutter erhält und durch die gewährleistet ist, dass sie nicht die Sozialhilfe des Vereinigten Königreichs in Anspruch nehmen muss.
Der Gerichtshof stellt sodann fest, dass der Umstand, dass Catherine die erforderlichen Mittel nicht selbst hat, irrelevant ist, da das Gemeinschaftsrecht keine Anforderungen in Bezug auf die Herkunft dieser Mittel aufstellt zumal Bestimmungen, in denen ein fundamentaler Grundsatz wie der der Freizügigkeit verankert ist, weit auszulegen sind.
Zu dem Umstand schließlich, dass der Aufenthalt von Frau Chen in Irland ausdrücklich dazu bestimmt war, dem Kind mit der Geburt den Erwerb der irischen Staatsangehörigkeit zu ermöglichen, führt der Gerichtshof aus, dass das Vereinigte Königreich den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für Catherine nicht allein mit der Begründung ablehnen kann, dass der Erwerb der irischen Staatsangehörigkeit darauf abgezielt habe, einem Staatsangehörigen eines Drittstaats ein Aufenthaltsrecht aufgrund Gemeinschaftsrechts zu verschaffen. Wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, unterliegen die Voraussetzungen für den Erwerb und den Verlust der Staatsangehörigkeit der Zuständigkeit der einzelnen Mitgliedstaaten, und ein Mitgliedstaat kann nicht die Wirkungen der Verleihung der Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats beschränken.
Zum Aufenthaltsrecht von Frau Chen
Das Gemeinschaftsrecht gewährleistet den Verwandten des Aufenthaltsberechtigten in aufsteigender Linie, denen er Unterhalt gewährt, das Recht, bei ihm Wohnung zu nehmen. Nach der Rechtssprechung des Gerichtshofes ist diese Situation dadurch gekennzeichnet, dass der Verwandte in aufsteigender Linie vom Aufenthaltsberechtigten materiell unterstützt wird. Da sich Frau Chen in der umgekehrten Situation befindet, kann sie nicht nach dieser Regelung in den Genuss eines Aufenthaltsrechts kommen.
Nach Auffassung des Gerichtshofes würde aber dem Aufenthaltsrecht der Tochter jede praktische Wirksamkeit genommen, wenn es Frau Chen nicht erlauben würde, sich mit ihr im Vereinigten Königreich aufzuhalten. Als Kleinkind kann Catherine nämlich nur dann in den Genuss des Aufenthaltsrechts kommen, wenn sich ihre Mutter, die für sie sorgt, bei ihr aufhalten darf.
Originaltext des Urteils:
Urteil des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache C-200/02: Zhu und Chen