Kooperationsabkommen EWG-Algerien
Das Diskriminierungsverbot im Bereich der sozialen Sicherheit hat unmittelbare Wirkung
(C-113/97 vom 15.01.1998, Babahenini)
Der Fall:
Die algerische Staatsangehörige Henia Babahenini ist die Ehefrau eines im Ruhestand befindlichen algerischen Arbeitnehmers. Sie wohnt mit ihrem Ehemann in Belgien, wo dieser als Arbeitnehmer beschäftigt war und eine Altersrente nach dem belgischen Recht bezieht. Sie selbst hat in Belgien nie eine berufliche Tätigkeit ausgeübt, weil sie körperlich behindert ist. Im September 1995 beantragte Frau Babahenini eine Beihilfe für Behinderte gemäß dem belgischen Recht. Die zuständigen belgischen Behörden lehnten diesen Antrag mit der Begründung ab, dass Frau Babahenini nicht die Voraussetzungen der einschlägigen belgischen Regelungen hinsichtlich der Staatsangehörigkeit erfülle. Dagegen erhob Frau Babahenini Klage vor einem belgischen Gericht und machte dabei einen Verstoß gegen Artikel 39 Absatz 1 des Kooperationsabkommens EWG-Algerien geltend, wonach den Arbeitnehmern algerischer Staatsangehörigkeit und den mit ihnen zusammenlebenden Familienangehörigen auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit eine Behandlung gewährt werden muss, die keine auf der Staatsangehörigkeit beruhende Benachteiligung gegenüber den Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten, in denen sie beschäftigt sind, bewirkt. Der belgische Staat vertrat jedoch die Auffassung, dass Frau Babahenini nicht in den Anwendungsbereich des Artikels 39 Absatz 1 des Abkommens falle, weil das im belgischen Recht vorgesehene Recht auf Behindertenbeihilfe als ein eigenes Recht anzusehen sei und die Klägerin nicht selbst die Arbeitnehmereigenschaft besitze.
Laut Europäischem Gerichtshof ist, was den persönlichen Geltungsbereich des Artikels 39 Absatz 1 des Abkommens angeht, diese Vorschrift zunächst auf Arbeitnehmer algerischer Staatsangehörigkeit anwendbar, wobei dieser Begriff sowohl die aktiven Arbeitnehmer als auch die Arbeitnehmer erfasst, die aus dem Arbeitsmarkt ausgeschieden sind, insbesondere nachdem sie das für die Gewährung einer Altersrente erforderliche Alter erreicht haben. Weiter gilt Artikel 39 Absatz 1 des Abkommens auch für die Familienangehörigen dieser Arbeitnehmer, die mit ihnen in dem Mitgliedstaat, in dem sie beschäftigt sind bzw. beschäftigt waren, zusammenleben. Bezüglich des Arguments des belgischen Staats, dass Frau Babahenini sich nicht auf Artikel 39 Absatz 1 des Abkommens berufen könne, weil es sich bei der begehrten Leistung nach belgischem Recht um ein eigenes Recht handele, verwies der Europäische Gerichtshof darauf, dass der persönliche Geltungsbereich des Artikels 39 Absatz 1 des Abkommens nicht deckungsgleich ist mit dem des Artikels 2 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71. Somit kann auch die Rechtsprechung, die im Rahmen der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 zwischen abgeleiteten und eigenen Rechten der Familienangehörigen unterscheidet, nicht auf das Abkommen übertragen werden.
Was den sachlichen Geltungsbereich des Artikel 39 Absatz 1 des Abkommens angeht, ist der in dieser Vorschrift enthaltene Begriff der sozialen Sicherheit jedoch genauso wie der in der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 verwendete, gleichlautende Begriff aufzufassen. Artikel 4 Absatz 2a Unterabsatz b der VO (EWG) Nr. 1408//1 enthält einen ausdrücklichen Hinweis auf die Leistungen, die zum besonderen Schutz der Behinderten bestimmt sind.
Somit kann sich Frau Babahenini bezüglich der von ihr begehrten Behindertenbeihilfe auf das in Artikel 39 Absatz 1 des Abkommens niedergelegte Diskriminierungsverbot berufen.
Das Urteil:
Artikel 39 Absatz 1 des am 26. April 1976 in Algier unterzeichneten Kooperationsabkommens zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Demokratischen Volksrepublik Algerien, im Namen der Gemeinschaft
genehmigt durch die Verordnung (EWG) Nr. 2210/78 des Rates vom 26. September 1978, ist dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat verwehrt, der behinderten Ehefrau eines im Ruhestand befindlichen algerischen Arbeitnehmers, die mit ihrem Ehegatten in diesem Mitgliedstaat wohnt, eine Leistung wie die Beihilfe für Behinderte, die nach den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats zugunsten von innerhalb des Landes wohnenden Inländern unabhängig von der Ausübung einer Berufstätigkeit vorgesehen ist, mit der Begründung zu versagen, dass sie algerische Staatsangehörige sei und niemals eine Berufstätigkeit ausgeübt habe.
Originaltext des Urteils:
Urteil des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache C-113/97: Babahenini