Gewährung von Erziehungsgeld an Familienangehörige eines Arbeitnehmers
Dass die Betreffenden in dem die Leistung erbringenden Staat wohnen, darf nicht vorausgesetzt werden
(C - 245/94 vom 10.101996, Höver und Zachow)
Der Fall:
Ingrid Höver und Iris Zachow sowie ihre Ehegatten sind deutsche Staatsangehörige und wohnen in den Niederlanden. Die beiden Ehemänner sind in Deutschland vollzeitbeschäftigt. Frau Zachow geht seit 1985 keiner Erwerbstätigkeit mehr nach. Frau Höver arbeitet seit Juni 1990 10 Stunden pro Woche in Deutschland. Bei der Geburt ihres Sohnes nahm sie 18 Monate Erziehungsurlaub. Im Dezember 1987 und im Mai 1991 beantragten die beiden Frauen Erziehungsgeld für ihre 1987 und 1991 geborenen Söhne. Das Land Nordrhein-Westfalen lehnte diese Anträge ab, weil Frau Zachow ihren Wohnsitz nicht in Deutschland habe und Frau Höver wegen ihrer geringfügigen Beschäftigung keine Arbeitnehmerin sei, was nach dem Bundeserziehungsgeldgesetz alternativ für die Gewährung dieser Leistung vorausgesetzt werde. Mit der Begründung, dass dies europäischem Sozialrecht zuwiderliefe, wehrten sich die beiden Frauen gegen die Ablehnungsbescheide.
Der Europäische Gerichtshof gab ihnen Recht. Wenn ein Mitgliedstaat die Gewährung von Familienleistungen wie dem Erziehungsgeld davon abhängig machen könnte, dass die Familienangehörigen des Erwerbstätigen in dem die Leistungen erbringenden Staat wohnen oder diese selbst dort beschäftigt sind, bestünde die Gefahr, dass der Erwerbstätige davon abgehalten werde, von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch zu machen.
Das Urteil:
1. Eine Leistung wie das Erziehungsgeld nach dem Bundeserziehungsgeldgesetz, die unabhängig von jeder auf Ermessensausübung beruhenden Einzelfallbeurteilung der persönlichen Bedürftigkeit ohne weiteres den Personen gewährt wird, die bestimmte objektive Voraussetzungen erfüllen, und die dem Ausgleich von Familienlasten dient, ist einer Familienleistung im Sinne von Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe h der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 geänderten und aktualisierten und durch die Verordnung (EWG) Nr. 3427/89 des Rates vom 30. Oktober 1989 geänderten Fassung gleichzustellen.
2. Der Ehegatte eines Arbeitnehmers, der den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats unterliegt und mit seiner Familie in einem anderen Mitgliedstaat lebt, hat aufgrund von Artikel 73 der Verordnung Nr. 1408/71 im Mitgliedstaat der Beschäftigung Anspruch auf eine Leistung wie das Erziehungsgeld.
3. Artikel 3 Absätze 1 und 2 der Richtlinie 79/7/EWG des Rates vom 19. Dezember 1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit ist dahin auszulegen, dass ein Erziehungsgeld wie das nach §§ 1 ff. Bundeserziehungsgeldgesetz nicht in den Geltungsbereich dieser Richtlinie fällt.
Die Pressemitteilung:
Urteil des Europäischen Gerichtshofes in den verbundenen Rechtssachen C-245/94 und C-312/94: Ingrid Höver und Iris Zachow / Land Nordrhein-Westfalen
Pressemitteilung des Europäischen Gerichtshofes Nr. 49/96 vom 10. Oktober 1996
I. ZUM HINTERGRUND
1. Zu den nationalen Vorschriften
Das deutsche Erziehungsgeld ist eine beitragsunabhängige Leistung, die zu einem Bündel familienpolitischer Maßnahmen gehört und nach dem Gesetz über die Gewährung von Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub [BErzGG] gewährt wird. Danach hat Anspruch auf Erziehungsgeld, wer 1. einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland hat, 2. mit einem Kind, für das ihm die Personensorge zusteht, in einem Haushalt lebt, 3. dieses Kind selbst betreut und erzieht und 4. keine oder keine volle Erwerbstätigkeit ausübt. Außerdem hat Anspruch auf Erziehungsgeld auch ein Angehöriger eines Mitgliedstaats der EG, der zwar nicht in Deutschland wohnt, aber dort ein Arbeitsverhältnis hat und bestimmte Voraussetzungen erfüllt -u.a. eine wöchentliche Arbeitszeit von mindestens 15 Stunden (§ 1 Abs. 4 BErzGG) (sonst nur "gering beschäftigt").
2. Zum Sachverhalt
Frau Höver und Frau Zachow sowie ihre Ehegatten sind deutsche Staatsangehörige und leben in Kerkrade in den Niederlanden. Frau H. arbeitet seit Juni 1990 wöchentlich 10 Stunden in Aachen. Bei der Geburt ihres Sohnes nahm sie 18 Monate Erziehungsurlaub. Frau Z. ist seit 1985 nicht mehr erwerbstätig. Die Ehemänner H. und Z. sind in Deutschland vollzeitbeschäftigt. Frau H. und Frau Z. beantragten am 30.5.1991 und am 28.12.1987 Erziehungsgeld für ihre 1991 und 1987 geborenen Söhne. Das Land Nordrhein-Westfalen lehnte diese Anträge ab, weil Frau H. wegen ihrer geringfügigen Beschäftigung keine Arbeitnehmerin im Sinne des BErzGG sei und weil Frau Z. ihren Wohnsitz und gewöhnlichen Aufenthalt in den Niederlanden habe.
Beide wehren sich gegen die Bescheide und berufen sich dazu insbesondere auf Vorschriften der VO (EWG) Nr. 1408/71 "zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern".
3. Zu den Gemeinschaftsvorschriften
Die VO (EWG) Nr. 1408/71 gilt u.a. für alle Rechtsvorschriften, die "Familienleistungen" betreffen (Art. 4 Abs. 1 Buchst. h). Diese sind alle Sach- oder Geldleistungen, die zum Ausgleich von Familienlasten bestimmt sind.
Weiter regelt die EWG-VO u.a.: "Ein Arbeitnehmer oder ein Selbständiger, der den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats unterliegt, hat ... für seine Familienangehörigen, die im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des ersten Staates, als ob diese Familienangehörigen im Gebiet dieses Staates wohnten." (Art. 73).
4. Zum nationalen Gerichtsverfahren
Da das inzwischen befasste Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen der Auffassung ist, dass die Entscheidung der Rechtsstreitigkeiten davon abhänge, wie die Gemeinschaftsregelung auszulegen sei, hat es die Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof allgemeine Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt. Auf der Grundlage der Antworten des Gerichtshofes wird dann das Landessozialgericht zu seiner abschließenden Entscheidung der bei ihm anhängigen individuellen Rechtssachen kommen.
II. AUS DEN ENTSCHEIDUNGSGRÜNDEN
1. Zum sachlichen Geltungsbereich der VO (EWG) Nr. 1408/71
Der Gerichtshof führt aus, das vorlegende Gericht wolle wissen, ob ein Erziehungsgeld wie das nach dem BErzGG einer Familienleistung iSv Art. 4 Abs. 1 Buchst. h der VO Nr. 1408/71 gleichzustellen ist. Der Gerichtshof bejaht dies anhand seiner bereits entwickelten Kriterien, wann eine Leistung als Leistung der sozialen Sicherheit betrachtet werden kann. Hierbei führt der Gerichtshof insbesondere aus, dass eine Leistung wie das deutsche Erziehungsgeld den Ausgleich von Familienlasten iSd EWG-VO bezwecke. Erstens werde das Erziehungsgeld nur gezahlt, wenn zu der Familie des Betroffenen eines oder mehrere Kinder gehörten. Zudem hänge seine Höhe teilweise vom Alter und von der Zahl der Kinder sowie vom Einkommen der Eltern ab. Zweitens solle das Erziehungsgeld einem Elternteil ermöglichen, sich in der ersten Lebensphase eines Kindes dessen Erziehung zu widmen. Diese Beihilfe diene dazu, die Erziehung des Kindes zu vergüten, die anderen Betreuungs- und Erziehungskosten auszugleichen und ggf. die finanziellen Nachteile, die der Verzicht auf ein Vollerwerbseinkommen bedeute, abzumildern.
2. Zum persönlichen Geltungsbereich der VO (EWG) Nr. 1408/71
Das vorlegende Gericht wolle wissen, ob der Ehegatte eines Arbeitnehmers, der den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats unterliegt und mit seiner Familie in einem anderen Mitgliedstaat lebt, aufgrund von Art. 73 der VO Nr. 1408/71 im Mitgliedstaat der Beschäftigung des Arbeitnehmers Anspruch auf eine Leistung wie das Erziehungsgeld hat.
Auch dieses bejaht der Gerichtshof.
Weder Frau H. noch Frau Z. sind in Deutschland sozialversichert, wohl aber ihre Ehemänner. Diese können als "Arbeitnehmer" iSd Art. 73 angesehen werden. Der Gerichtshof erläutert, Art. 73 bezwecke gerade, zugunsten der Familienangehörigen, die in einem anderen als dem zuständigen Mitgliedstaat wohnten, die Gewährung der nach den anwendbaren Rechtsvorschriften vorgesehenen Familienleistungen sicherzustellen. Mit dieser Gemeinschaftsvorschrift solle vor allem verhindert werden, dass ein Mitgliedstaat die Gewährung oder die Höhe von Familienleistungen davon abhängig machen könne, dass die Familienangehörigen des Erwerbstätigen in dem die Leistungen erbringenden Mitgliedstaat wohnten; auf diese Weise solle verhindert werden, dass der EG-Erwerbstätige davon abgehalten werde, von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch zu machen. Wäre aber die Gewährung des Erziehungsgelds - das eine Familienleistung ist - an die Voraussetzung gebunden, dass der nicht in Deutschland wohnende Ehegatte eines Arbeitnehmers im Geltungsbereich des BErzGG beschäftigt ist, so könnte der Arbeitnehmer davon abgehalten werden, von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch zu machen. Folglich liefe es dem Sinn und Zweck des Art. 73 der VO Nr. 1408/71 zuwider, wenn dem Ehegatten eines Arbeitnehmers eine Leistung verweigert würde, die er hätte beanspruchen können, wenn er in dem die Leistung erbringenden Staat geblieben wäre.
Wenn schließlich die Gewährleistung einer Beihilfe wie das Erziehungsgeld dem Ausgleich von Familienlasten diene, sei es ohne Bedeutung, welcher Elternteil sie in Anspruch nehmen wolle.
3. Zur Richtlinie 79/7/EWG "zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit"
Ferner wolle das vorlegende Gericht wissen, ob eine nationale Vorschrift wie § 1 Abs. 4 BErzGG eine gegen Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 79/7 verstoßende Diskriminierung aufgrund des Geschlechts darstelle, sofern danach Angehörige eines Mitgliedstaats, die ein Arbeitsverhältnis in Deutschland hätten, nur dann Erziehungsgeld beanspruchen könnten, wenn sie eine mehr als geringfügige Beschäftigung ausüben. Der Gerichtshof führt hierzu aus, dass ein Erziehungsgeld - wie das deutsche - nicht unter die Richtlinie falle.
Originaltext des Urteils:
Urteil des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssachen C-245/94 und C-312/94:
Ingrid Hoever und Iris Zachow / Land Nordrhein-Westfalen