Anspruch auf Familienleistungen kraft Gemeinschaftsrechts
Staatenlose und Flüchtlinge müssen sich in einer Situation befinden, die Gemeinschaftsrechtsbezug aufweist
(C-95/99 u. a. vom 11.10.2001, Khalil u. a.)
Der Fall:
Der Europäische Gerichtshof äußert sich im Fall von Palästinensern, Kurden, Algeriern und Marokkanern, die mit ihren Familien in den 80er Jahren nach Deutschland eingereist sind und sich seitdem dort als Staatenlose oder Flüchtlinge aufhalten. Aufgrund einer Änderung des deutschen Rechts Mitte der 90er Jahre wurde ihnen die Bewilligung von Kinder- bzw. Erziehungsgeld versagt, weil sie nicht im Besitz entsprechender Aufenthaltstitel waren. Die Betroffenen klagten dagegen und stützten sich zur Begründung auf die Gemeinschaftsverordnung über die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer und ihrer Familien, deren Geltungsbereich auch Staatenlose und Flüchtlinge unterfielen.
Laut Europäischem Gerichtshof gilt die genannte Verordnung nicht für Sachverhalte, die keinerlei Gemeinschaftsrechtsbezug aufweisen. Die Vergünstigungen, die mit der Eigenschaft eines Arbeitnehmers verbunden sind, der innerhalb der Europäischen Union gewandert ist, kann Staatenlosen oder Flüchtlingen, die in einem Mitgliedstaat wohnen, nicht gewährt werden, wenn sie sich in einer Situation befinden, die mit keinem Element über die Grenzen dieses Mitgliedstaats hinausweisen.
Das Urteil:
1. Die Prüfung der ersten Vorlagefrage hat nichts ergeben, was die Gültigkeit der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in ihrer durch die Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 geänderten und aktualisierten Fassung in Frage stellen könnte, soweit sie Staatenlose oder Flüchtlinge, die im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnen, sowie deren Familienangehörige in ihren persönlichen Geltungsbereich einbezieht.
2. Die Arbeitnehmer, die als Staatenlose oder Flüchtlinge im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnen, sowie deren Familienangehörige können die von der Verordnung Nr. 1408/71 in ihrer durch die Verordnung Nr. 2001/83 geänderten und aktualisierten Fassung gewährten Rechte nicht geltend machen, wenn sie sich in einer Situation befinden, die mit keinem Element über die Grenzen dieses Mitgliedstaats hinausweist.
Die Pressemitteilung:
Urteil des Europäischen Gerichtshofes in den Rechtssachen C-95/99 bis C-98/99 und C-180/99: Mervett Khalil und andere / Bundesanstalt für Arbeit ; Mohamad Nasser / Landeshauptstadt Stuttgart ; Meriem Addou / Land Nordrhein-Westfalen
Pressemitteilung des Europäischen Gerichtshofes Nr. 51/01 vom 11. Oktober 2001
Staatenlose und Flüchtlingen können nicht kraft Gemeinschaftsrechts Zahlung von Familienleistungen beanspruchen, wenn sie unmittelbar aus einem Drittstaat eingereist sind und sich in einer Situation befinden, die keinerlei Gemeinschaftsrechtsbezug aufweist.
Die Eheleute Khalil (Rechtssache C-95/99) sind aus dem Libanon stammende Palästinenser, die als Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem Libanon nach Deutschland eingereist sind (1984 bzw. 1986), wo sie seitdem ununterbrochen leben. Ihre Anerkennung als politische Flüchtlinge wurde abgelehnt. Die Eheleute Chaaban (Rechtssache C-96/99) sind aus dem Libanon stammende Kurden, die als Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem Libanon 1985 nach Deutschland eingereist sind, wo sie seitdem ununterbrochen leben. Ihre Anerkennung als politische Flüchtlinge wurde abgelehnt. Herr Chaaban besitzt wie seine Kinder die libanesische Staatsangehörigkeit. Die Eheleute Osseili (Rechtssache C-97/99) sind 1986 nach Deutschland eingereist. Herr Osseili besitzt ein libanesisches Reisedokument für palästinensische Flüchtlinge. Sein Asylantrag blieb ohne Erfolg. Herr Nasser (Rechtssache C-98/99) ist Inhaber eines libanesischen Reisedokuments für palästinensische Flüchtlinge. Er hält sich zusammen mit seiner Familie seit 1985 in Deutschland auf. Seine Anerkennung als politischer Flüchtling wurde abgelehnt. Seit dem 30. April 1998 ist er im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis.
Nach deutschem Recht werden die Eheleute Khalil, die Ehefrau von Herrn Chaaban sowie Herr Osseili und Herr Nasser als Staatenlose angesehen.
Diesen Personen wurde aufgrund einer Änderung des deutschen Rechts zwischen Dezember 1993 und März 1994 die Bewilligung des Kindergeldes versagt. Zur Begründung ihrer Klagen gegen diese Bescheide trugen sie vor, dass sie bzw. ihre Ehegatten als Staatenlose anzusehen seien und daher Familienleistungen erhalten müssten, da das Gemeinschaftsrecht sie Deutschen und anderen Unionsbürgern gleichstelle. Auf den Besitz bestimmter Aufenthaltstitel komme es dabei nicht an.
Frau Addou (Rechtssache C-180/99) ist algerische Staatsangehörige; ihr Ehemann und ihre Kinder besaßen die marokkanische Staatsangehörigkeit. Herr Addou ist später durch Einbürgerung deutscher Staatsbürger geworden, nachdem er die Rechtsstellung als Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention hatte. Die Eheleute Addou sind 1988 aus Algerien bzw. Marokko nach Deutschland eingereist, wo sie seitdem ununterbrochen leben. Ihre Anerkennung als Asylberechtigte wurde abgelehnt, aber sie bekamen im Februar 1994 eine Aufenthaltsbefugnis und im Mai 1996 eine Aufenthaltserlaubnis.
Frau Addou klagte gegen die Weigerung des Landes Nordrhein-Westfalen, ihr Erziehungsgeld zu zahlen. Dieser Klage gab das Berufungsgericht statt, da es der Auffassung war, dass es auf den Besitz eines Aufenthaltstitels nicht ankomme, weil Frau Addou als Familienangehörige eines anerkannten Flüchtlings nach dem Gemeinschaftsrecht deutschen Staatsangehörigen und anderen Bürgern der Mitgliedstaaten der Europäischen Union gleichzustellen sei.
Die Betroffenen stützen sich auf die Gemeinschaftsverordnung über die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer und ihrer Familien, die Arbeitnehmer, die als Staatenlose oder Flüchtlinge im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnen, sowie deren Familienangehörige und Hinterbliebene in ihren Geltungsbereich einbezieht. Für den Begriff .Flüchtling" verweist die Gemeinschaftsregelung auf das internationale Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genf 1951) und für den Begriff .Staatenloser" auf das internationale Übereinkommen über die Rechtsstellung der Staatenlosen (New York 1954).
Das in letzter Instanz angerufene Bundessozialgericht befragt den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften nach der Gültigkeit und der Auslegung dieser Gemeinschaftsverordnung.
Was die Gültigkeit betrifft, so hat das Bundessozialgericht Zweifel an der Zuständigkeit des Gemeinschaftsgesetzgebers zur Regelung der Situation der Staatenlosen und Flüchtlinge.
Der Gerichtshof erinnert daran, dass alle sechs Gründungsmitgliedstaaten 1957 bereits vertragschließende Parteien der Genfer Konvention von 1951 (Flüchtlinge) und des New Yorker Übereinkommens von 1954 (Staatenlose) gewesen seien.
Der Gerichtshof verweist ferner darauf, dass der Endzweck der bereits im EWG-Vertrag von 1957 vorgesehenen Koordinierung der nationalen Systeme der sozialen Sicherheit darin bestehe, eine möglichst weitgehende Freizügigkeit der Arbeitnehmer sicherzustellen.
Dem Rat könne nicht vorgeworfen werden, dass er Staatenlose und Flüchtlinge, die im Gebiet der Mitgliedstaaten wohnten, in den Geltungsbereich der Gemeinschaftsverordnung über die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer und ihrer Familie einbezogen habe, um den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten Rechnung zu tragen.
Das deutsche Gericht möchte ferner wissen, ob die Arbeitnehmer, die als Staatenlose oder Flüchtlinge im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnen, sowie deren Familienangehörige die von dieser Gemeinschaftsverordnung gewährten Rechte geltend machen können, wenn sie unmittelbar aus einem Drittland in diesen Mitgliedstaat eingereist und innerhalb der Gemeinschaft nicht gewandert sind.
Der Gerichtshof weist darauf hin, dass das Gemeinschaftsrecht für die Wanderarbeitnehmer die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten und die Zahlung der Leistungen im Rahmen dieser koordinierten Systeme bezwecke. Die Gemeinschaftsverordnung über die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer und ihrer Familie stelle eine Gesamtheit von Vorschriften auf, die sich auf das Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit oder des Aufenthaltsortes sowie auf die Aufrechterhaltung der Ansprüche gründeten, die der Arbeitnehmer nach dem System oder den Systemen der sozialen Sicherheit, die für ihn gälten oder gegolten hätten, erworben habe.
Der Gerichtshof verweist auf seine bisherige Rechtsprechung, wonach diese Vorschriften nicht für Sachverhalte gälten, die keinerlei Gemeinschaftsrechtsbezug aufwiesen. Die Vergünstigungen, die mit der Eigenschaft eines Arbeitnehmers verbunden seien, der innerhalb der Europäischen Union gewandert sei, könnten Staatenlosen oder Flüchtlingen, die in einem Mitgliedstaat wohnten, nicht gewährt werden, wenn sie sich in einer Situation befänden, die mit keinem Element über die Grenzen dieses Mitgliedstaats hinausweise.
Originaltext des Urteils:
Urteil des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache C-95/99: Khalil