Leistungen für unterhaltsberechtigte Kinder und für Waisen von Rentnern

Liegen Voraussetzungen im Wohnmitgliedstaat nicht (mehr) vor, bestehen nur unter bestimmten Umständen Ansprüche in anderen Mitgliedstaaten
(C-471/99 vom 24.09.2002, Martínez Domínguez u.a.)

Der Fall:

Rechtssachen: Martínez Domínguez, Benítez Urbano und Mateos Cruz

Die in Spanien wohnhaften, spanischen Staatsangehörigen Alfredo Martínez Domínguez, Joaquín Benítez Urbano und Agapito Mateos Cruz haben in Deutschland als Wanderarbeitnehmer gearbeitet. Jeder bezieht eine Rente in Spanien und eine Rente in Deutschland. In Deutschland beziehen die Herren Martínez Domínguez und Mateos Cruz Renten wegen Erwerbsunfähigkeit, Herr Benítez Urbano eine Altersrente. Allerdings sind ihre jeweiligen Rentenansprüche nur dank der Berücksichtigung in Spanien entrichteter Beiträge gegeben. 1996 und 1997 beantragten sie deutsches Kindergeld. Herr Martínez Domínguez beantragte die Zahlung von Kindergeld für ein Kind unter 18 Jahren, weil er eine solche Leistung in Spanien wegen Überschreitens der Einkommensgrenze gemäß dem spanischen Recht nicht erhielt. Herr Benítez Urbano und Herr Mateos Cruz beantragten Kindergeld für Kinder über 18 Jahren. Diese Anträge wurden mit der Begründung abgelehnt, dass bei fehlendem Rentenanspruch allein nach deutschem Recht der Wohnsitzstaat für die Gewährung der betreffenden Leistungen allein zuständig bleibe.

Rechtsache Calvo Fernández :

Die in Spanien wohnhafte, spanische Staatsangehörige Carmen Calvo Fernández ist Witwe eines 1985 verstorbenen spanischen Staatsangehörigen. Ihr Ehegatte hatte als Wanderarbeitnehmer in Deutschland gearbeitet, wo er einen Rentenanspruch nach dem am 4. Dezember 1973 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Spanien geschlossenen Abkommen über Soziale Sicherheit in der durch einen Zusatz vom 17. Dezember 1975 geänderten Fassung erworben hatte. Er hatte in Deutschland keinen Anspruch auf Familienleistungen. In Spanien wurden Halbwaisenrenten für die in Spanien wohnenden Kinder unter 18 Jahren gezahlt. Halbwaisenrenten wurden auch in Deutschland aufgrund des genannten bilateralen Abkommens, und zwar sogar noch nach dem 1. Januar 1986, dem Zeitpunkt des Beitritts des Königreichs Spanien zu den Europäischen Gemeinschaften gezahlt, wobei ein Anspruch auf diese Renten allein nach deutschem Recht nicht bestand. Grund für die Weiterzahlung der Halbwaisenrenten in Deutschland war, dass die nach dem bilateralen Abkommen gewährten Leistungen für die Leistungsempfänger
günstiger waren, als die nach dem einschlägigen Gemeinschaftsrecht.
Frau Calvo Fernández Antrag auf deutsches Kindergeld für zwei ihrer Kinder, die das 18. Lebensjahr vollendet hatten und in Ausbildung waren, wurde 1997 mit der gleichen Begründung wie in den drei anderen Rechtssachen abgelehnt.

 

Wenn eine der Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen für unterhaltsberechtigte Kinder oder Waisen von Rentnern nach dem Recht des Wohnmitgliedstaats nicht oder nicht mehr vorliegt, z.B. wegen Überschreitung der Einkommenshöchstgrenze oder der Altersgrenze für die betreffenden Kinder, ist der zuständige Träger eines anderen Mitgliedstaats laut Europäischem Gerichtshof gemäß dem einschlägigen Gemeinschaftsrecht nicht verpflichtet, dem Betroffenen die Leistung zu gewähren, wenn es seitens des Betroffenen an einem Rentenanspruch allein nach dem Recht dieses Mitgliedstaats fehlt.
Etwas anderes gilt dann, wenn der Betroffene seinen Rentenanspruch aufgrund eines zwischen den betreffenden beiden Mitgliedstaaten geschlossenen und vor dem Inkrafttreten des einschlägigen Gemeinschaftsrecht in deren Rechtsordnungen aufgenommnen Abkommens erworben hat und er ein wohlerworbenes Recht darauf besitzt, dass das Abkommen auch nach dem Inkrafttreten des einschlägigen Gemeinschaftsrechts weiter angewandt wird. Dann ist nämlich dieser Rentenanspruch dem Rentenanspruch gleichzustellen, der allein nach dem innerstaatlichem Recht des Mitgliedstaats, in dem der Antrag auf die begehrte Leistung gestellt wurde, gegeben ist. Ein wohlerworbenes Recht auf weitere Anwendung eines bilateralen Abkommens besteht dann, wenn die nach dem Abkommen gewährten Leistungen günstiger sind, als die nach dem einschlägigen Gemeinschaftsrecht.

Das Urteil:

Die Artikel 77 Absatz 2 Buchstabe b und 78 Absatz 2 Buchstabe b der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 geänderten und aktualisierten Fassung in Verbindung mit Artikel 79 Absatz 1 dieser Verordnung sind so auszulegen, dass der zuständige Träger eines Mitgliedstaats, der nicht der Wohnstaat des Empfängers einer Alters- oder Invaliditätsrente oder der Wohnstaat des Waisen eines verstorbenen Arbeitnehmers ist, nicht verpflichtet ist, den Betroffenen Leistungen für unterhaltsberechtigte Kinder oder für Waisen zu gewähren, wenn die in den Rechtsvorschriften des Wohnstaats für die Bewilligung solcher Leistungen vorgesehenen Voraussetzungen nicht oder nicht mehr vorliegen und der Anspruch des Rentenempfängers oder derjenige von Waisen des verstorbenen Arbeitnehmers in dem anderen Mitgliedstaat allein nach dessen Recht nicht gegeben ist. Der zuständige Träger des Mitgliedstaats, der nicht der Wohnstaat ist, kann in einem solchen Fall gleichwohl verpflichtet sein, die betreffenden Leistungen aufgrund eines zwischen den entsprechenden beiden Mitgliedstaaten geschlossenen und vor dem Inkrafttreten der Verordnung in deren Rechtsordnungen aufgenommenen Abkommens über soziale Sicherheit zu gewähren, wenn die Betroffenen ein wohlerworbenes Recht darauf besitzen, dass dieses Abkommen nach dem Inkrafttreten der Verordnung weiter angewandt wird.

Originaltext des Urteils:

Urteil des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache C-471/99: Martínez Domínguez