Gewährung von Erziehungsgeld an Angehörige anderer Mitgliedstaaten

Aufenthaltserlaubnis kann nur rein deklaratorische Wirkung zukommen
(C-85/96 vom 12.05.1998, Martínez Sala)

Der Fall:

Die spanische Staatsangehörige María Martínez Sala wohnt seit Mai 1968 in Deutschland, wo sie von 1976 bis Oktober 1989 mit Unterbrechungen verschiedene Tätigkeiten als Arbeitnehmerin ausübte. Danach bezog sie Sozialhilfe. Bis Mai 1989 erhielt Frau Martínez Sala Aufenthaltserlaubnisse; im Anschluss daran jedoch nur noch Bescheinigungen, wonach die Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnis beantragt sei. Einer Ausweisung von Frau Martínez Sala stand das Europäische Fürsorgeabkommen vom 11. Dezember 1953 entgegen. Im Januar 1993 beantragte Frau Martínez Sala Erziehungsgeld, welches jedoch mit der Begründung abgelehnt wurde, dass sie weder die deutsche Staatsangehörigkeit noch eine Aufenthaltsberechtigung oder -erlaubnis besitze.

Laut Europäischem Gerichtshof stellt es eine mit dem Gemeinschaftsrecht nicht zu vereinbarende Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit dar, wenn ein Mitgliedstaat die Gewährung von Erziehungsgeld an Angehörige anderer Mitgliedstaaten, denen der Aufenthalt in seinem Gebiet erlaubt ist, von der Vorlage einer Aufenthaltsgenehmigung abhängig macht, während Inländer lediglich einen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat haben müssen.

Das Urteil:

1. Eine Leistung wie das Erziehungsgeld nach dem Bundeserziehungsgeldgesetz, die bei Erfüllung bestimmter objektiver Voraussetzungen ohne weiteres unter Ausschluss jedes Ermessens gewährt wird, ohne dass im Einzelfall die persönliche Bedürftigkeit des Empfängers festgestellt werden müsste, und die dem Ausgleich von Familienlasten dient, fällt als Familienleistung im Sinne von Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe h der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 geänderten und aktualisierten und durch die Verordnung (EWG) Nr. 3427/89 des Rates vom 30. Oktober 1989 geänderten Fassung sowie als soziale Vergünstigung im Sinne von Artikel 7 Absatz 2 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft in den sachlichen Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts.

2. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, festzustellen, ob eine Person wie die Klägerin des Ausgangsverfahrens in den persönlichen Anwendungsbereich
des Artikels 48 EG-Vertrag1 und der Verordnung Nr. 1612/68 oder der Verordnung Nr. 1408/71 fällt.

3. Das Gemeinschaftsrecht verbietet einem Mitgliedstaat, die Gewährung von Erziehungsgeld an Angehörige anderer Mitgliedstaaten, denen der Aufenthalt in seinem Gebiet erlaubt ist, von der Vorlage einer von der inländischen Verwaltung ausgestellten förmlichen Aufenthaltserlaubnis abhängig zu machen, während Inländer lediglich einen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat haben müssen.
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1 Jetzt Artikel 39 EG.

Die Pressemitteilung:

Urteil des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache C-85/96: María Martínez Sala / Freistaat Bayern

Pressemitteilung des Europäischen Gerichtshofes Nr. 32/98 vom 12. Mai 1998

Jeder Angehörige eines Mitgliedstaats kann sich gegenüber einer Diskriminierung aus Gründen seiner Staatsangehörigkeit durch einen anderen Mitgliedstaat auf seine Unionsbürgerschaft berufen

Der Gerichtshof äußert sich zu der Weigerung, für das Kind eines seit langem arbeitslosen Wanderarbeitnehmers deutsches Erziehungsgeld zu gewähren.

I. Sachverhalt

Frau Martínez Sala besitzt die spanische Staatsangehörigkeit und wohnt seit Mai 1968 in Deutschland. Dort übte sie von 1976 an mit Unterbrechungen verschiedene Tätigkeiten als Arbeitnehmerin aus, zuletzt 1986 und danach noch einmal vom 12. September 1989 bis zum 24. Oktober 1989. Von da an erhielt sie Sozialhilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz. Frau M. erhielt von den zuständigen Behörden Aufenthaltserlaubnisse ohne größere Unterbrechungen bis zum 19. Mai 1984. Im Anschluss daran erhielt sie lediglich Bescheinigungen, wonach die Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnis beantragt sei. Das Europäische Fürsorgeabkommen vom 11. Dezember 1953 verbot jedoch eine Ausweisung der Betroffenen. Im Januar 1993, also zu der Zeit, zu der sie keine Aufenthaltserlaubnis besaß, beantragte Frau M. beim Freistaat Bayern Erziehungsgeld für ihr in jenem Monat geborenes Kind. Mit Bescheid vom 21. Januar 1993 lehnte der Freistaat Bayern diesen Antrag ab, weil die Betroffene weder im Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit noch einer Aufenthaltsberechtigung oder Aufenthaltserlaubnis sei. Später, am 19. April 1994 wurde Frau M. eine Aufenthaltserlaubnis bis zum 18. April 1995 erteilt, die am 20. April 1995 um ein weiteres Jahr verlängert wurde.

II. Vorabentscheidungsverfahren

Nach Abweisung ihrer Klage wandte sich Frau M. an das Bayerische Landessozialgericht als Berufungsgericht, das es für nicht ausgeschlossen hielt, dass sich Frau M. auf die beiden Gemeinschaftsverordnungen Nr. 1612/68 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft und Nr. 1408/71 über den sozialen Schutz der Wanderarbeitnehmer und ihrer Familien berufen könnte. Das Bayerische Landessozialgericht hat daher das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof mehrere Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt, die der Gerichtshof heute beantwortet.

III. Das Urteil des Gerichtshofes

1. Zur Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts auf das deutsche Erziehungsgeld

Das deutsche Erziehungsgeld ist eine beitragsunabhängige Leistung, die zu einem Bündel familienpolitischer Maßnahmen gehört und nach dem Bundeserziehungsgeldgesetz gewährt wird; hierfür sieht dieses Gesetz bestimmte Voraussetzungen vor und bestimmt außerdem: "Für den Anspruch eines Ausländers ist Voraussetzung, dass er im Besitz einer Aufenthaltsberechtigung oder Aufenthaltserlaubnis ist." Der Gerichtshof stellt fest, dass eine Leistung wie das deutsche Erziehungsgeld, die bei Erfüllung bestimmter objektiver Voraussetzungen ohne weiteres unter Ausschluss jedes Ermessens gewährt werde, ohne dass im Einzelfall die persönliche Bedürftigkeit des Empfängers festgestellt werden müsste, und die dem Ausgleich von Familienlasten diene, in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts falle.

2. Zum Begriff "Arbeitnehmer"

Das vorlegende Gericht möchte u. a. wissen, ob ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats, der in einem anderen Mitgliedstaat wohnt, wo er als Arbeitnehmer beschäftigt war und wo er anschließend Sozialhilfe bezog, "Arbeitnehmer" im Sinne einer der beiden Gemeinschaftsverordnungen ist.

Da sich der Gerichtshof mangels ausreichender Angaben des Bayerischen Landessozialgerichts nicht in der Lage sieht, festzustellen, ob eine Person in der Situation von Frau M. "Arbeitnehmer" im Sinne einer der beiden Verordnungen ist (etwa weil sie auf Arbeitssuche ist), ist es Sache des vorlegenden Gerichts, dies zu prüfen.

3. Aufenthaltserlaubnis als Voraussetzung für die Gewährung des deutschen Erziehungsgeldes

Schließlich fragt das Bayerische Landessozialgericht, ob das Gemeinschaftsrecht es einem Mitgliedstaat verbietet, die Gewährung von Erziehungsgeld an Angehörige anderer Mitgliedstaaten von der Vorlage einer förmlichen Aufenthaltserlaubnis abhängig zu machen. Dieser Frage liegt die Annahme zugrunde, dass sich die Klägerin erlaubt in dem betreffenden Mitgliedstaat aufhält.

a. Grundsatz

Der Gerichtshof führt aus, das Gemeinschaftsrecht verbiete zwar einem Mitgliedstaat nicht, von den Angehörigen anderer Mitgliedstaaten, die sich rechtmäßig in seinem Hoheitsgebiet aufhielten, zu verlangen, dass sie ständig ein Dokument bei sich trügen, das ihr Aufenthaltsrecht bescheinige, soweit die Inländer eine entsprechende Verpflichtung hinsichtlich ihres Personalausweises treffe; dies gelte jedoch nicht notwendig auch für den Fall, dass ein Mitgliedstaat den Anspruch der Angehörigen anderer Mitgliedstaaten auf Erziehungsgeld davon abhängig mache, dass sie im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis seien, die von der Verwaltung auszustellen sei. Hinsichtlich der Anerkennung des Aufenthaltsrechts könne die Aufenthaltserlaubnis nämlich nur deklaratorische Wirkung und Beweisfunktion haben. In der vorliegenden Rechtssache zeige sich jedoch, dass der Aufenthaltserlaubnis für die Gewährung der streitigen Leistung konstitutive Bedeutung zukomme. Verlange demnach ein Mitgliedstaat von dem Angehörigen eines anderen Mitgliedstaats, der eine Leistung wie dieses Erziehungsgeld erhalten möchte, die Vorlage eines von seiner eigenen Verwaltung ausgestellten Dokuments mit konstitutiver Wirkung, während Inländer kein derartiges Dokument benötigten, so laufe dies auf eine Ungleichbehandlung hinaus. Im Anwendungsbereich des Vertrages stelle eine solche Ungleichbehandlung, wenn sie nicht gerechtfertigt sei, eine nach Artikel 6 EG-Vertrag1 verbotene Diskriminierung dar.

b. Anspruch eines "Arbeitnehmers" im Sinne des Gemeinschaftsrechts auf diese Gleichbehandlung

Sollte das vorlegende Gericht zu der Auffassung gelangen, dass Frau M. "Arbeitnehmerin" im Sinne einer der beiden Verordnungen sei, wäre die streitige Ungleichbehandlung mit den Bestimmungen des EG-Vertrags über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer unvereinbar.

c. Anspruch eines Unionsbürgers auf diese Gleichbehandlung

Für den Fall, dass die Klägerin nicht als Arbeitnehmerin anzusehen ist, trägt die deutsche Regierung vor, der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens falle nicht in den Anwendungsbereich des Vertrages, so dass sich Frau M. nicht auf dessen Artikel 61 berufen könne; dagegen steht der Klägerin nach Ansicht der Kommission jedenfalls seit dem 1. November 1993, dem Tag des Inkrafttretens des Vertrages über die Europäische Union, ein Aufenthaltsrecht aus Artikel 8a EG-Vertrag2 zu. Dieser Artikel lautet: "Jeder Unionsbürger hat das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in diesem Vertrag und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten." Nach Artikel 8 Absatz 1 EG-Vertrag3 ist Unionsbürger, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt.

Nach Auffassung des Gerichtshofes braucht in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens jedoch nicht geprüft zu werden, ob Frau M. ein neues Aufenthaltsrecht im Gebiet des betreffenden Mitgliedstaats aus Artikel 8a2 des Vertrages herleiten könne, da sie sich dort bereits erlaubterweise aufgehalten habe, obwohl sie kein Aufenthaltspapier erhalten habe.

Als Angehörige eines Mitgliedstaats, die sich rechtmäßig im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhalte, falle Frau M. in den persönlichen Anwendungsbereich der Vertragsbestimmungen über die Unionsbürgerschaft.

Artikel 8 Absatz 24 des Vertrages knüpfe an den Status eines Unionsbürgers die im Vertrag vorgesehenen Pflichten und Rechte, darunter das in Artikel 61 des Vertrages festgelegte Recht, im sachlichen Anwendungsbereich des Vertrages nicht aus Gründen der Staatsangehörigkeit diskriminiert zu werden.

Folglich könne sich ein Unionsbürger, der sich wie Frau M. rechtmäßig im Gebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufhalte, in allen vom sachlichen Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts erfassten Fällen auf Artikel 61 des Vertrages berufen, und zwar auch in dem Fall, dass dieser Staat die Gewährung einer Leistung, die jeder Person zustehe, die sich rechtmäßig in diesem Staat aufhalte, verzögere oder verweigere, weil diese Person nicht über ein Dokument verfüge, das Angehörige dieses Staates nicht benötigten und dessen Ausstellung von der Verwaltung dieses Staates verzögert oder verweigert werden könne.

Die fragliche Ungleichbehandlung falle somit in den Anwendungsbereich des Vertrages und könne nicht als gerechtfertigt angesehen werden. Es handele sich nämlich um eine Diskriminierung der Klägerin unmittelbar aus Gründen der Staatsangehörigkeit; dem Gerichtshof sei im übrigen nichts vorgetragen worden, was eine solche Ungleichbehandlung rechtfertigen würde.
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1 jetzt Artikel 12 EG
2 jetzt Artikel 18 EG
3 jetzt Artikel 17 Absatz 1 EG
4 jetzt Artikel 17 Absatz 2 EG

Originaltext des Urteils:

Urteil des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache C-85/96: Martínez Sala