Räumlich beschränkte Aufenthaltsverbote
Vorbehalt der öffentlichen Ordnung kann nicht wegen gewerkschaftlicher Betätigungen geltend gemacht werden
(C-36/75 vom 28.10.1975, Rutili)
Der Fall:
Roland Rutili war ein in Frankreich lebender italienischer Staatsangehöriger, dem die zuständige Ordnungsbehörde im Oktober 1970 eine eingeschränkte Aufenthaltserlaubnis erteilte, die ihm den Aufenthalt in bestimmten französischen Departements verbot. Das Verbot galt unter anderem für den Bezirk, in dem Herr Rutili mit seiner Familie wohnte.
Die Gründe für diese Entscheidung wurden Herrn Rutili erst im Laufe des von ihm vor dem nationalen Gericht hiergegen anhängig gemachten Verfahrens in allgemeiner Form eröffnet. Nach den - von Herrn Rutili allerdings bestrittenen - Angaben des Innenministeriums wurden ihm politische und gewerkschaftliche Betätigungen während der Jahre 1967 und 1968 zur Last gelegt und seine Anwesenheit in den in der Entscheidung bezeichneten Departements deswegen als "zur Störung der öffentlichen Ordnung geeignet" angesehen.
Gegenüber französischen Staatsangehörigen konnten beschränkte Aufenthaltsverbote lediglich bei bestimmten strafgerichtlichen Verurteilungen als Nebenstrafe sowie nach der Erklärung des Notstands verhängt werden.
Laut Europäischem Gerichtshof darf das Recht der Unionsbürger, sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufzuhalten und dort frei zu bewegen, nur beschränkt werden, wenn ihre Anwesenheit oder ihr Verhalten eine tatsächliche und hinreichend schwerwiegende Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt. Der Vorbehalt der öffentlichen Ordnung kann aber nicht aus Gründen geltend gemacht werden, die mit der Ausübung gewerkschaftlicher Rechte im Zusammenhang stehen. In formeller Hinsicht erfordert eine Maßnahme wie ein beschränktes Aufenthaltsverbot, dass der betreffende Staat dem Betroffenen zugleich mit der Bekanntgabe des Verbots die Gründe hierfür genau und vollständig eröffnet, um ihm Gelegenheit zu geben, sich zweckentsprechend zu verteidigen.
Schließlich kann ein Mitgliedstaat räumlich beschränkte Aufenthaltsverbote gegen einen Angehörigen eines anderen Mitgliedstaats nur in den Fällen aussprechen, in denen solche Verbote gegenüber den eigenen Staatsangehörigen zulässig sind.
Das Urteil:
1. Die Wendung "vorbehaltlich der aus Gründen der öffentlichen Ordnung ... gerechtfertigten Beschränkungen" in Artikel 481 betrifft nicht nur die Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die jeder Mitgliedstaat zur Beschränkung der Freizügigkeit und des Aufenthalts von Staatsangehörigen der anderem Mitgliedstaaten in seinem Staatsgebiet erlassen hat, sondern auch in Anwendung solchen Rechts- oder Verwaltungsvorschriften erlassene Einzelentscheidungen.
2. Die Berechtigung von Maßnahmen zum Schutz der öffentlichen Ordnung ist anhand aller Vorschriften des Gemeinschaftsrechts zu beurteilen, die dazu bestimmt sind, zum einen das freie Ermessen der Mitgliedstaaten auf diesem Gebiet zu beschränken und zum anderen die Verteidigung der Rechte von Personen zu garantieren, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung freiheitsbeschränkenden Maßnahmen unterworfen werden.
Solche Beschränkungen und Garantien ergeben sich insbesondere aus der den Mitgliedstaaten auferlegten Verpflichtung, Maßnahmen ausschließlich aufgrund des persönlichen Verhaltens der betroffenen Personen zu erlassen, sich auf diesem Gebiet aller Maßnahmen zu enthalten, die anderen Zielen als den Erfordernissen der öffentlichen Ordnung dienen oder die Ausübung der gewerkschaftlichen Rechte beeinträchtigen könnten, jeder von freiheitsbeschränkenden Maßnahmen betroffenen Person - außer wenn Gründe der Sicherheit des Staates entgegenstehen - unverzüglich die Gründe mitzuteilen, auf die sich die Entscheidung stützt, und endlich die Möglichkeit zur Einlegung zweckentsprechender Rechtsbehelfe zu gewährleisten.
Insbesondere können für einen Teil des Staatsgebiets geltende Beschränkungen des Aufenthaltsrechts von einem Mitgliedstaat gegenüber Angehörigen der anderen Mitgliedstaaten, für die die Bestimmungen des Vertrages gelten, nur in den Fällen und unter den Voraussetzungen ausgesprochen werden, in denen solche Maßnahmen gegenüber den eigenen Staatsangehörigen des betreffenden Staates angewendet werden können.
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1 Jetzt Artikel 39 EG.
Originaltext des Urteils:
Urteil des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache C-36/75: Rutili