Überprüfung der Identität von Personen beim Überschreiten der Grenzen
Gefängnisstrafe bei Weigerung gegen die Identitätsüberprüfung ist unverhältnismäßig
(C-378/97 vom 21.09.1999, Wijsenbeek)
Der Fall:
Der niederländische Staatsangehörige Florus Ariël Wijsenbeek wurde in einem Strafverfahren in den Niederlanden strafrechtlich verfolgt, weil er sich im Dezember 1993 nach einem Flug von Straßburg nach Rotterdam auf dem Flughafen Rotterdam geweigert hatte, seinen Reisepass vorzuzeigen. Daraufhin erfolgte eine Verurteilung zu einer Geldbuße in Höhe von 65 HFL, ersatzweise zu einem Tag Gefängnis.
Der Europäische Gerichtshof stellte fest, dass es zur entscheidungserheblichen Zeit weder gemeinsame Vorschriften noch eine Harmonisierung der Gesetze der Mitgliedstaaten über die Kontrolle der Außengrenzen und die Ausländer-, Visums- und Asylpolitik gab. Bis Harmonisierungsmaßnahmen erlassen worden sind, setzt die Ausübung des unionsbürgerlichen Rechts, sich in den Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten voraus, dass der Betroffene belegen kann, dass er die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt. Sanktionen für die Zuwiderhandlung gegen eine solche Verpflichtung müssen verhältnismäßig sein.
Das Urteil:
Nach dem zur Zeit des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens geltenden Gemeinschaftsrecht verbot weder Artikel 7a noch Artikel 8a EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 14 EG und 18 EG) es einem Mitgliedstaat, von einer Person unabhängig davon, ob sie Bürger der Europäischen Union war, bei der Einreise über eine Binnengrenze der Gemeinschaft unter Strafandrohung zu verlangen, dass sie ihre Staatsangehörigkeit belege, soweit die Sanktionen denen für entsprechende innerstaatliche Vergehen vergleichbar und nicht unverhältnismäßig waren und damit keine Behinderung des freien Personenverkehrs darstellten.
Die Pressemitteilung:
Urteil des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache C-378/97: Strafverfahren gegen Florus Ariël Wijsenbeek
Pressemitteilung des Europäischen Gerichtshofes Nr. 69/99 vom 21. September 1999
Die Mitgliedstaaten haben bis zum Erlass von Harmonisierungsmaßnahmen hinsichtlich des Überschreitens der Außengrenze das Recht, die Staatsangehörigkeit der Bürger der Europäischen Union zu überprüfen, die über eine Binnengrenze der Gemeinschaft einreisen.
Der Gerichtshof untersucht die Vereinbarkeit eines nationalen Gesetzes zur Überprüfung der Identität von Personen beim Überschreiten der Grenzen mit dem geltenden Gemeinschaftsrecht.
Der Angeklagte, ein niederländischer Staatsangehöriger, weigerte sich bei seiner Einreise am 17. Dezember 1993 von Straßburg in die Niederlande über den Flughafen Rotterdam, dem mit der Grenzüberwachung beauftragten Beamten seinen Reisepass vorzuzeigen und auszuhändigen oder seine Staatsangehörigkeit auf andere Weise zu belegen.
Der Kantonrechter verurteilte den Angeklagten wegen Verstoßes gegen eine niederländische Verordnung zu einer Geldbuße in Höhe von 65 HFL, ersatzweise zu einem Tag Gefängnis. Nach der Verordnung sind niederländische Staatsangehörige, die in die Niederlande einreisen, verpflichtet, den mit der Grenzüberwachung beauftragten Beamten die in ihrem Besitz befindlichen Identitätspapiere und Reisedokumente vorzuzeigen und erforderlichenfalls ihre niederländische Staatsangehörigkeit auf andere Weise zu belegen.
Die Arrondissementsrechtbank, bei der der Angeklagte Berufung einlegte, legt dem Gerichtshof eine Frage zur Vereinbarkeit dieser Verordnung mit dem Gemeinschaftsrecht vor: Kann eine nationale Regelung von einer Person unabhängig davon, ob sie Bürger der Europäischen Union ist, unter Strafandrohung verlangen, dass sie bei der Einreise aus einem anderen Mitgliedstaat über einen nationalen Flughafen, d.h. über eine Binnengrenze der Gemeinschaft, einen Reisepass vorzeigt?
Der Gerichtshof legt zunächst dar, dass der Angeklagte von seinem Recht auf Freizügigkeit, das der EG-Vertrag den Angehörigen der Mitgliedstaaten gewährleistet, Gebrauch machen und sich in seinem Herkunftsstaat darauf berufen durfte.
Die durch die Einheitliche Akte eingefügten Bestimmungen, die die Gründung eines Binnenmarktes bis zum 31. Dezember 1992 vorsehen, haben nicht die Wirkung, dass aus dem Ablauf dieser Frist automatisch eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Abschaffung der Grenzkontrollen folgt, wenn der Rat weder Maßnahmen, die den Mitgliedstaaten diese Verpflichtung auferlegen, noch die erforderlichen flankierenden Maßnahmen (Harmonisierungsmaßnahmen hinsichtlich des Überschreitens der Außengrenzen der Gemeinschaft, der Einwanderung, der Visa Erteilung, des Asyls und des Datenaustauschs über diese Fragen) erlassen hat.
Der Gerichtshof schließt sich dem Vorbringen der Kommission an: Die Ausübung des Rechts, sich in den Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, setzt, bis Harmonisierungsmaßnahmen erlassen worden sind, voraus, dass der Betroffene belegen kann, dass er die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt.
Da nach dem zur Zeit des Sachverhalts geltenden Gemeinschaftsrecht diese Harmonisierungsmaßnahmen fehlten, durften also die Mitgliedstaaten nach Auffassung des Gerichtshofes Identitätskontrollen an den Binnengrenzen der Gemeinschaft durchführen, um festzustellen, ob der Betroffene Angehöriger eines Mitgliedstaats ist und daher über das Recht auf Freizügigkeit im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten verfügt, und waren zuständig, für die Verletzung einer daraus resultierende Verpflichtung eine Sanktion zu verhängen.
Der Gerichtshof stellt fest, dass die im nationalen Recht vorgesehenen Sanktionen denjenigen, die auf entsprechende nationale Vergehen anwendbar sind, vergleichbar und verhältnismäßig sein müssen, so dass sie keine Behinderung des freien Personenverkehrs darstellen. Eine Gefängnisstrafe erscheint dem Gerichtshof unverhältnismäßig.
Originaltext des Urteils:
Urteil des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache C-378/97: Wijsenbeek