Anspruch auf Pflegegeld auch bei Wohnsitz in anderem Mitgliedstaat
Keine Beitragsbefreiung für Wanderarbeitnehmer
(C - 160/96 vom 05.03.1998, Molenaar und Fath-Molenaar)
Der Fall:
Der niederländische Staatsangehörige Manfred Molenaar und seine deutsche Ehefrau Barbara Fath-Molenaar arbeiten beide in Deutschland und wohnen in Frankreich. Sie sind in Deutschland pflegeversichert.
Die deutsche Rechtsvorschrift, nach der die Inanspruchnahme von Leistungen der Pflegeversicherung davon abhängig ist, dass der Versicherte sich in Deutschland aufhalte, verstößt laut Europäischem Gerichtshof gegen Europäisches Recht.
Das Urteil:
Es verstößt nicht gegen die Artikel 61 und Artikel 48 Absatz 22 EG-Vertrag, wenn ein Mitgliedstaat Personen, die in seinem Gebiet arbeiten, jedoch in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, zu Beiträgen zu einem System der sozialen Sicherheit zur Deckung des Risikos der Pflegebedürftigkeit heranzieht. Es verstößt jedoch gegen die Artikel 19 Absatz 1, 25 Absatz 1 und 28 Absatz 1 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 geänderten und aktualisierten Fassung, den Anspruch auf eine Leistung wie das Pflegegeld, die eine Geldleistung bei Krankheit darstellt, davon abhängig zu machen, daß der Versicherte in dem Staat wohnt, in dem er der Versicherung angeschlossen ist.
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1 Jetzt Artikel 12 EG.
2 Jetzt Artikel 39 Absatz 2 EG.
Die Pressemitteilung:
Urteil des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache C-160/96: Manfred Molenaar und Barbara Fath-Molenaar/AOK Baden-Württemberg
Pressemitteilung des Europäischen Gerichtshofs Nr.11/98 vom 5. März 1998
Der Gerichtshof äußert sich zum deutschen § 34 Abs.1 Nr.1 SGB XI, wonach beitragspflichtige Pflegeversicherte keinen Anspruch auf Leistungen haben, wenn sie nicht in Deutschland wohnen.
Herr M. ist Niederländer, seine Ehefrau deutsche Staatsangehörige. Beide sind in Deutschland erwerbstätig, wohnen jedoch in Frankreich. Sie sind bei der Krankenversicherung in Deutschland freiwillig versichert und wurden ab 1.1.1995 der Pflegeversicherung angeschlossen. Die AOK teilte ihnen jedoch mit, daß sie, solange sie sich in Frankreich aufhielten, keinen Anspruch auf Leistungen der Pflegeversicherung geltend machen könnten. Nach einer deutschen Rechtsvorschrift sei die Inanspruchnahme von Leistungen der Pflegeversicherung nämlich davon abhängig, daß der Versicherte sich in Deutschland aufhalte ( § 34 Abs.1 Nr.1 Sozialgesetzbuch XI).
Herr und Frau M. haben daraufhin beim Sozialgericht Karlsruhe beantragt, festzustellen, daß sie nicht verpflichtet seien, Beiträge zur Pflegeversicherung zu entrichten, solange sie nicht in den Genuß ihrer Leistungen gelangen könnten. Das Gericht hat Bedenken, ob die deutsche Vorschrift insbesondere mit dem gemeinschaftsrechtlichen Grundsatz vereinbar ist, der die Diskriminierung von Wanderarbeitnehmern aufgrund der Staatsangehörigkeit verbietet. Es hat deshalb das Verfahren ausgesetzt und den Gerichtshof der EG nach der Auslegung dieses Grundsatzes gefragt.
Der Gerichtshof verweist auf die EWG-Verordnung über die soziale Absicherung von Wanderarbeitnehmern innerhalb der EG (VO (EWG) Nr.1408/71). Sie ist mit dem Ziel erlassen worden, die Nachteile zu beseitigen, welche sich für diese Arbeitnehmer aus den je nach Mitgliedstaat unterschiedlichen Rechtsvorschriften über die soziale Sicherheit ergeben und damit die Ausübung ihres Rechts auf Freizügigkeit behindern.
Der Gerichtshof stellt zunächst fest, daß ein System wie die deutsche Pflegeversicherung in den Geltungsbereich dieser Verordnung falle, und zwar als "Leistungen bei Krankheit".
Für diese Art von Leistungen sind die Vorschriften der EWG-Verordnung anwendbar, wenn der Versicherte seinen Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat als dem zuständigen Staat hat und alle im zuständigen Staat erforderlichen Voraussetzungen für den Leistungsanspruch erfüllt. Dabei ist die Lösung unterschiedlich, je nachdem ob es sich um "Sachleistungen" oder "Geldleistungen" wegen Krankheit handelt.
Der Gerichtshof differenziert zwischen den verschiedenen Leistungen der deutschen Pflegeversicherung:
- Die Leistungen bestehen zum Teil in der Übernahme oder Erstattung der durch die Pflegebedürftigkeit des Betroffenen entstandenen Kosten, insbesondere der Kosten für ärztliche Behandlung. Solche Leistungen, die die häusliche oder stationäre Pflege des Versicherten, den Kauf von Pflegehilfsmitteln und bestimmte Maßnahmen decken sollen, seien "Sachleistungen" im Sinne der EWG-Verordnung. Nach der Verordnung erhalte in diesem Fall der Versicherte in dem Staat, in dem er wohne, diese "Sachleistungen" vom Träger des Wohnorts nach den für diesen Träger geltenden Rechtsvorschriften, als ob er bei diesem versichert wäre.
- Ein anderer Typ von Leistung im Rahmen der deutschen Pflegeversicherung ist das "Pflegegeld". Nach Ansicht des Gerichtshofes stellt sich dieses als eine finanzielle Unterstützung dar, die es ermögliche, den Lebensstandard der Pflegebedürftigen insgesamt durch einen Ausgleich der durch ihren Zustand verursachten Mehrkosten zu verbessern. Das Pflegegeld sei somit eine "Geldleistung" der Krankenversicherung im Sinne der EWG-Verordnung. Nach der Verordnung erhalte in diesem Fall der Versicherte in dem Staat, in dem er wohne, diese "Geldleistung" vom zuständigen Träger nach den für diesen Träger geltenden Rechtsvorschriften.
Daraus zieht der Gerichtshof folgende Konsequenzen: Die deutsche Vorschrift verstoße - soweit sie die Zahlung von Pflegegeld an einen Anspruchsberechtigten verbiete, weil er in einem anderen Mitgliedstaat wohne - gegen die EWG-Verordnung. Weder aus diesem Verstoß noch aus dem Umstand, daß die Sachleistungen der Pflegeversicherung vom Träger des Wohnorts gewährt würden, folge jedoch, daß die Wanderarbeitnehmer Anspruch darauf hätten, von den Beiträgen zur Pflegeversicherung befreit zu werden. Um Pflegegeld zu erhalten, könnte das Ehepaar M. sich ungeachtet der entgegenstehenden Bestimmungen des nationalen Rechts auf die EWG-Verordnung berufen.
Originaltext des Urteils:
Urteil des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache C-160/96 :
Manfred Molenaar und Barbara Fath-Molenaar/AOK Baden-Württemberg