Ausbildungsförderung für Auslandssemester
Kinder türkischer Wanderarbeitnehmer mit Wohnsitz bei den Eltern im Aufnahmemitgliedstaat müssen wie Inländer behandelt werden
(C-374/03 vom 07.07.2005, Gürol)
Der Fall:
Gaye Gürol ist eine in Deutschland geborene, türkische Staatsangehörige, deren Eltern, ebenfalls türkische Staatsangehörige, wie ihre Tochter in Deutschland leben und dort ordnungsgemäß beschäftigt sind.
Seit dem Wintersemester 1995/96 studierte Frau Gürol Volkswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Regionalstudien an der Universität Tübingen. Für diesen Studienabschnitt wurde ihr Ausbildungsförderung nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) bewilligt.
Mit Aufnahme ihres Universitätsstudiums begründete Frau Gürol ihren Hauptwohnsitz in Tübingen, war daneben jedoch in der Wohnung ihrer Eltern in Philippsburg mit Nebenwohnsitz gemeldet. Im Rahmen dieses Studiums verbrachte sie von Oktober 1999 bis September 2000 ein Studienjahr an der Bogazici-Universität in Istanbul (Türkei). Während der Dauer dieses Aufenthalts war sie am Wohnort ihrer Eltern mit Hauptwohnsitz gemeldet. Nach ihrer Rückkehr nach Deutschland verlegte sie diesen Wohnsitz wieder nach Tübingen und meldete bei ihren Eltern erneut einen Nebenwohnsitz an.
Im August 1999 beantragte Frau Gürol bei den deutschen Behörden Ausbildungsförderung für ihr Studium in Istanbul.
Dieser Antrag wurde unter Berufung auf das BAföG abgelehnt. Frau Gürol sei Ausländerin und habe daher im Unterschied zu deutschen Staatsangehörigen nur dann einen Anspruch auf Ausbildungsförderung für ein Auslandsstudium, „wenn der Auslandsaufenthalt in Ausbildungsbestimmungen als ein notwendig im Ausland durchzuführender Teil der Ausbildung vorgeschrieben" sei. Dies sei bei dem von Frau Gürol gewählten Hauptstudium nicht der Fall. Im entsprechenden Studienplan werde nämlich lediglich darauf hingewiesen, dass ein Studienaufenthalt von ein bis zwei Semestern an einer Universität außerhalb Deutschlands eine gute Möglichkeit für Studierende des Regionalstudiengangs darstelle, ihre sprachlichen und kulturellen Kenntnisse der gewählten Region zu vertiefen und Erfahrungen auch im Hinblick auf spätere Berufschancen zu machen. Dabei handele es sich jedoch um eine bloße Empfehlung.
Das zuständige deutsche Gericht, bei dem Frau Gürol im Februar 2000 Klage wegen der Antragsablehnung erhoben hatte, stellte fest, dass sich aus dem BAföG zwar kein Anspruch auf die von Frau Gürol beantragte Ausbildungsförderung ergebe, dass ein solcher Anspruch aber u. U. aus Artikel 9 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG-Türkei erwachsen könnte.
Artikel 9 des Beschlusses Nr. 1/80 lautet:
„Türkische Kinder, die in einem Mitgliedstaat der Gemeinschaft ordnungsgemäß bei ihren Eltern wohnen, welche dort ordnungsgemäß beschäftigt sind oder waren, werden unter Zugrundelegung derselben Qualifikationen wie die Kinder von Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaates zum allgemeinen Schulunterricht, zur Lehrlingsausbildung und zur beruflichen Bildung zugelassen. Sie können in diesem Mitgliedstaat Anspruch auf die Vorteile haben, die nach den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften in diesem Bereich vorgesehen sind."
Laut Europäischem Gerichtshof hat Artikel 9 des Beschlusses Nr. 1/80 in den Mitgliedstaaten unmittelbare Wirkung. Diese Bestimmung enthält nämlich ein Gleichbehandlungsgebot in Bezug auf den Zugang zum Schulunterricht und zur beruflichen Bildung unter Zugrundelegung derselben Qualifikationen und in Bezug auf die Vorteile, die in diesem Bereich gewährt werden, das seinem Wesen nach geeignet ist, von Einzelnen vor einem nationalen Gericht zur Stützung des Begehrens geltend gemacht zu werden, diskriminierende Vorschriften einer Regelung eines Mitgliedstaats unangewendet zu lassen, die die Gewährung eines Anspruchs oder eines Vorteils von einer Voraussetzung abhängig macht, die für Inländer nicht gilt.
Da der gleichberechtigte Zugang zu den Maßnahmen der Ausbildungsförderung für türkische Kinder somit gewährleistet ist, wenn der Aufnahmemitgliedstaat es seinen eigenen Staatsangehörigen ermöglicht, Ausbildungsförderung für ein Auslandsstudium zu beziehen, muss türkischen Kindern angesichts des Wortlauts des Artikels 9 des Beschlusses Nr. 1/80 zur Wahrung der Chancengleichheit der Auszubildenden untereinander derselbe Vorteil gewährt werden, wenn sie außerhalb dieses Mitgliedstaats studieren wollen. Dies gilt auch dann, wenn sie ihr Studium im Herkunftsstaat ihrer Familie absolvieren möchten.
Die Voraussetzung des „Wohnens bei den Eltern" im Sinne von Artikel 9 Satz1 des Beschlusses Nr. 1/80 ist erfüllt, wenn ein türkisches Kind, nachdem es im Aufnahmemitgliedstaat ordnungsgemäß bei seinen Eltern gewohnt hatte, seinen Hauptwohnsitz am im gleichen Staat gelegenen Ort der universitären Ausbildung begründet und bei seinen Eltern nur mit Nebenwohnsitz gemeldet ist. Diese Bestimmung macht die Gewährung des Rechts auf Gleichbehandlung beim Zugang zur schulischen und zur beruflichen Ausbildung nämlich weder von einer bestimmten Modalität des Wohnens bei den Eltern während der Ausbildungszeit, wie z. B. vom Bestehen einer häuslichen Gemeinschaft zwischen Kindern und Eltern, noch von einer bestimmten Form des Wohnens während dieser Zeit, wie z. B. einem Hauptwohnsitz anstelle eines Nebenwohnsitzes, abhängig. Darüber hinaus ist diese Auslegung geboten, um sicherzustellen, dass das mit dieser Bestimmung verfolgte Ziel, den türkischen Kindern den Schulbesuch und eine Berufsausbildung im Aufnahmemitgliedstaat ihrer Eltern zu ermöglichen, ohne die Wahl der Betroffenen in Bezug auf die Art der schulischen oder beruflichen Ausbildung zu beschränken, erreicht wird.
Aus alledem folgt, dass Frau Gürol die von ihr beantragte Ausbildungsförderung für ihr Studium in Istanbul zu Unrecht verweigert wurde.
Das Urteil:
1. Artikel 9 Satz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation, der von dem durch das Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei errichteten Assoziationsrat erlassen wurde, hat in den Mitgliedstaaten unmittelbare Wirkung.
2. Die Voraussetzung des „Wohnens bei den Eltern" im Sinne von Artikel 9 Satz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 ist erfüllt, wenn ein türkisches Kind, nachdem es im Aufnahmemitgliedstaat ordnungsgemäß bei seinen Eltern gewohnt hat, seinen Hauptwohnsitz am im gleichen Staat gelegenen Ort der universitären Ausbildung begründet und bei seinen Eltern nur mit Nebenwohnsitz gemeldet ist.
3. Artikel 9 Satz 2 des Beschlusses Nr. 1/80 hat in den Mitgliedstaaten unmittelbare Wirkung. Diese Bestimmung gewährt türkischen Kindern einen Anspruch auf gleichberechtigten Zugang zu einer Ausbildungsförderung, wie sie in der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Regelung vorgesehen ist, wobei ihnen dieser Anspruch auch dann zusteht, wenn sie ein Hochschulstudium in der Türkei absolvieren.
Originaltext des Urteils:
Urteil des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache C-374/03: Gürol